Geschwister - Liebe und Rivalitaet
homoerotischen Anteile in der Regel der Verdrängung oder Sublimierung verfallen.
Die erotische Anziehung ist nur einer von vielen Faktoren, die die Geschwisterliebe in der Pubertät und Adoleszenz charakterisieren. Andere können ein wesentlich größeres Gewicht bekommen. An der Nahtstelle von Kindheit und Erwachsensein dienen sie der Transformation der kindlichen in eine erwachsene Geschwisterliebe. Diese Zusammenhänge lassen sich am folgenden Beispiel gut veranschaulichen:
In einer Balint-Gruppe für angehende Lehrer wurde in einer Sitzung über die unbewusste Berufsmotivation der Teilnehmer gesprochen. 19 In der darauf folgenden Stunde berichtet ein Student:
»Bisher habe ich mir nie Gedanken darüber gemacht, warum ich Lehrer werden will. Es interessiert mich einfach, Kindern etwas beizubringen. Nach der letzten Sitzung hatte ich folgenden Traum: Ich bin etwa 14 bis 15 Jahre alt. Ich steige auf mein Fahrrad und will losfahren, aber ich komme nicht von der Stelle, trete immer ins Leere. Ich finde den Fehler nicht. Da kommt mein älterer Bruder. Er legt einen Hebel um, den ich vorher gar nicht gesehen habe, und ich fahre stolz davon.«
Die Gruppenmitglieder lachen. Sie scheinen die Aussage des Traums verstanden zu haben und wollen zur Bestätigung von dem Studenten nur wissen, ob es tatsächlich so gewesen sei. »Ja«, sagt er, »genau so war es. Meine Pubertät war die Hölle. Ich gehörte immer zu den schlechtesten Schülern, und mein Vaterreagierte mit kalter Ironie: ›Du kannst ja immer noch Straßenbahnschaffner werden.‹ Ich hatte auch keinerlei Begabung, keine Interessen, nichts. Wo andere eine Zukunft sahen, sah ich nur Abgrund. Ganz tief innen fühle ich, dass mein Bruder mich gerettet hat. Er war der Einzige, der an mich glaubte. Er brachte mir alles bei: wie man ein Fahrrad repariert oder eine elektrische Leitung, überhaupt alles Technische; mit ihm habe ich zum ersten Mal Schach gespielt; gelegentlich nahm er mich mit, zuerst in eine Disco, später zu Literaturlesungen oder ins Kino. Mit ihm konnte ich über alles reden, über Onanie zum Beispiel oder wie man es mit den Mädchen macht.«
Ich sage: »Sie wollen also Lehrer werden, um so zu sein wie der Bruder.«
»Da ist was dran«, sagt er und fügt lachend hinzu: »Aber dafür sind Sie ja da, um meine Motivation herauszufinden.«
»Gute Idee«, antworte ich, »aber dann müssen Sie nur noch klären, ob Ihr Verhältnis so einseitig war, wie Sie es schildern, oder ob Sie nicht auch Eigenes in die Beziehung eingebracht haben. Ich stelle mir vor, dass Ihr Bruder ohne diese Bedingung bald die Lust verloren hätte, Ihr Kindermädchen zu sein.«
Der Student denkt lange nach. Ihm fällt nichts Positives ein. Ich frage die Gruppe, was sie dazu denkt. Jedes Gruppenmitglied gibt ihm ein Feedback. Dabei wird deutlich, wie er von den anderen erlebt wird – als attraktiv, witzig, belesen, manchmal etwas stur und bockig; einige betonen seinen Charme und seine Warmherzigkeit. Der Student freut sich, ist etwas verlegen. »Und was soll das nun alles mit meinem Bruder zu tun haben?«, fragt er mich.
»Ich wäre stolz darauf, wenn ich so einen Bruder hätte, und wenn er dazu noch etwas dumm ist, umso besser, dann könnte ich das Gefühl haben, von mir alleine hängt es ab, ob etwas aus ihm wird. Vielleicht haben Sie Ihrem Bruder mit Ihrer angeblichen Dummheit einen großen Gefallen getan.«
Der Student ist perplex. Jetzt fällt ihm eine Reihe von Beispielen ein, unter anderem hätten Freundinnen des Bruders öfters gesagt: »Was hast du für einen süßen Bruder!« Der Bruder habe sich dann immer stolz in die Brust geworfen. Oder heute frage sein Bruder ihn bei allen möglichen Anlässen um Rat.
Das Beispiel verweist auf einen Sachverhalt, der für das Verständnis der Geschwisterliebe von außerordentlicher Bedeutung ist – auf die Dialektik der Beziehung. Sie betrifft zwar alle Altersstufen und Entwicklungsstadien, wird aber erst in der Pubertät und Adoleszenz existenziell. Dies hängt mit den radikalen seelischen und psychosozialen Umbrüchen in dieser Zeit zusammen, die das bisherige Identitätsgefüge erschüttern. Das rapide Körperwachstum, der Triebschub bis zur Geschlechtsreife, der exponentielle Anstieg des Wissens, der Denkfunktionen, der Realitätsprüfung und der sozialen Kompetenzen können nur schrittweise integriert werden. Dabei verbindet sich das erweiterte Bewusstsein von der eigenen Stellung in der Welt zum ersten Mal mit der
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