Geschwister - Liebe und Rivalitaet
abgeleitet, das »zum Haus gehörig, vertraut« bedeutet. Die ursprünglich familiäre Herkunft des Begriffs wird in den Geheimnissen der Geschwister besonders evident. Sie gehören zu den ersten wichtigen Geheimnisträgern und bleiben für viele Menschen auch zeitlebens die entscheidenden. Bestimmte Geheimnisse dringen nie über die Geschwisterebene hinaus. Ihre magische Dimension drückt sich in der »Geheimsprache«, den »Geheimcodes«, in der geheimen Fingersprache und in den vielen anderen Geheimgesten aus, die Geschwister gemeinsam entwickeln. Im Geheimnis ist die eigene Schwäche, Verletzlichkeit und Angst, das Versagen und die Schuld aufgehoben. Indem ein Geschwister dem anderen ein Geheimnis mitteilt, entsteht aus der Vereinzelung das Gemeinsame. Das gehütete Geheimnis wird Teil einer gemeinsamen Verantwortung. Das macht die Kraft geteilter Geheimnisse aus. Mit ihnen grenzen sich Geschwister in einem ausschließlichen Vertrauen von anderen ab, zuerst von den Eltern, später vom weiteren sozialen Umfeld, wodurch sie sich gegenseitig vor äußerer Gefahr schützen. Ohne Vertrauen kein Geheimnis. Beide sind für Kinder der unteilbare Beweis ihrer Geschwisterliebe. Vertrauen und Geheimnis werden in der späten Kindheit zu einem zentralen Bestandteil der Beziehung und prägen in ihrer Einheit eine eigene Kommunikationsstruktur aus, wie sie zwischen Eltern und Kindern gesunderweise nicht besteht. So dient sie nicht nur der Abgrenzung, sondern schließlich auch der Ablösung von den Eltern. Diese Tatsache erklärt die geläufige Beobachtung, dass die persönlichen Mitteilungen zwischen Eltern und Kindern in der späten Kindheit immer mehr an Häufigkeit und Bedeutung verlieren, wenn die Geschwister ihre eigene Schutzzone um sich aufbauen.
Diese Schutzzone hat noch einen anderen realen Hintergrund. Geschwister helfen sich nicht nur gegenseitig in Gefahrensituationen, sondern sie warnen sich auch davor. Diese Funktion ist für den sozialen Lernprozess deshalb so wichtig, weil Kinder die Warnungen des Geschwisters oft ernster nehmen, als wenn sie von den Eltern ausgesprochen werden. Hier haben sie oft den Stempel des Verbotes oder der willkürlichen Beeinflussung. Kinder verfügen darüber hinaus oft über eine genauere Einschätzung, welche Gefahren vermieden und welche gewagt werden müssen. Denn das gehört dazu. Nur aus der schrittweisen Überwindung von Gefahren und Ängsten erwachsen neue Fähigkeiten und das Zutrauen zu sich selbst. Aus dem gemeinsamen Überlegen, Besprechen, Beraten und Planen resultieren Strategien der Konflikt- und Gefahrenbewältigung. Die vorausplanende Fantasie entspricht einem Probehandeln, das die Lösung eines Problems auf der Realitätsebene erleichtert.
Ein beliebtes Übungsfeld, wo Probehandeln langsam in die Überwindung realer Schwierigkeiten überführt wird, ist das »Streiche spielen«. Geschwister probieren sie zunächst bei den Eltern aus, später außerhalb der Familie. Im »Streich« wird eine überschaubare Gefahr mutwillig heraufbeschworen, die von einem lustvollen Angstkitzel begleitet ist. Streiche haben die Funktion von Mutproben, bei denen der Umgang mit bedrohlichen Situationen spielerisch eingeübt wird. Wilhelm Busch hat das Spiel, allerdings in karikaturistischer Übertreibung, in seiner Geschichte der Brüder Max und Moritz zur allgemeinen Erheiterung seiner kleinen und großen Leser meisterhaft bebildert. Man lacht über die beiden bösen Buben, weil sie die lustvolle Seite des Spiels aus Kindertagen wieder ans Licht bringen. Dass die beiden auf so grausame Weise dabei umkommen müssen, drückt symbolisch die innere Bereitschaft aus, Gefahrensituationen bis an ihre Grenzen hin auszutesten und zu erproben, um sich in ihnen bewähren zu können.
Die Art der Bedrohungen wandelt sich im Laufe eines Lebens. Die späte Kindheit stellt jedoch die entscheidenden Weichen für das Spektrum an äußeren und inneren Möglichkeiten, auf sie zu reagieren. Die Geschwistererfahrungen in dieser Zeit scheinen mir dabei von besonderer Bedeutung. Nicht zufällig wird auch im späteren Leben so häufig auf die Unterstützung von Geschwistern zurückgegriffen, wenn es darum geht, besonders bedrohliche oder belastende Ereignisse zu bewältigen, die das innere oder äußere Gleichgewicht zu zerstören drohen. Die vielen Facetten der gemeinsamen Gefahrenabwehr und -bewältigung in der Kindheit erzeugen in den Geschwistern Gefühle wechselseitiger Hilfe, Gefühle von Schutz und
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