Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Engagement in einer kirchlichen Gemeinde oder in einer politischen Organisation. Stefan und Markus sind Computerfreaks, stellen Video-Spiele her und reparieren gemeinsam alle technischen Geräte, die ihnen unter die Finger kommen. Viele Geschwister teilen über viele Jahre die gleichen Freunde.
Aber die vielen Gemeinsamkeiten bilden nur die eine Seite der Medaille der Geschwisterbeziehung in dieser Zeit. Parallel dazu treten die Unterschiede jetzt deutlich zutage. Jeder entwickelt aus seinen individuellen Anlagen und Erfahrungen eigene Konturen und erschließt sich neue Interessenbereiche und Tätigkeitsfelder. Die Partizipation mischt sich hier häufig mit einem verwunderten Staunen über die unerwarteten Entwicklungsschritte des anderen, mit einer Faszination und Spannung, die nicht selten eine neidlose Bewunderung einschließen.
Eine spezielle Form der Partizipation in der Pubertät besteht zwischen Brüdern und Schwestern. Die Ausreifung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale, die Ausdifferenzierung spezifisch weiblicher und männlicher Fühlfunktionen und Interessenschwerpunkte bedeuten für jedes Geschwister die verwunderte Beobachtung an dem erregenden Vorgang, bei dem das kleine Mädchen, die Schwester, plötzlich zur Frau und der kleine Junge, der Bruder, zum Mann wird. Anders als in der sogenannten infantil-genitalen Phase zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr, in der die Geschwister zum ersten Malihre unterschiedliche Geschlechtszugehörigkeit erkannt haben, wird in der Pubertät das andere Geschlecht in seiner realen Erfahrung von Sexualität, Orgasmus, Menstruation und Brustwachstum und in der Möglichkeit von Zeugung und Geburt fundamental neu erlebt. Zwar existieren entsprechende Vorbilder in der Mutter und im Vater, aber es sind wohl die Wandlungsvorgänge vom Kind zum Erwachsenen und die aus der Unschuld aufbrechende Geschlechtlichkeit, die Brüder und Schwestern an diesem beiderseitigen Reifungsprozess so staunend teilnehmen lassen. Es erscheint mir angemessen, die Beobachtung dieser besonderen Art der »Geburt« als eine mythische Erfahrung zu begreifen, bei der jeder sich selbst und den anderen als geteilte Geschlechter erkennt, die in der körperlichen Vereinigung zur Einheit zurückfinden könnten. In einer auf Partizipation und Gleichberechtigung basierenden Geschwisterliebe wird die regressive Erfüllung solcher Fantasien auf einen fremden Partner übertragen. Wo dieser Reifungsschritt ausbleibt, dient die sexuelle Vereinigung der Geschwister, der Inzest, der Verleugnung des Getrenntseins und der realen wie magischen Wiederherstellung der ursprünglichen Einheit.
Geschwisterliche Partizipation in der Pubertät und Adoleszenz bedeutet nicht nur Teilnahme und Ergänzung durch den harmonischen Wechsel von Gemeinsamkeit und Verschiedenartigkeit in der äußeren Lebensgestaltung; sie erschließt auch die innere Welt des anderen in einer bisher nicht erreichten Intimität. Damit ist der Geschwisterroman jetzt so weit entwickelt, dass er die Einführung neuer Personen zulässt. Mit diesem Schritt ist die letzte Hürde erreicht, die die Geschwisterliebe in diesem Lebensabschnitt bewältigen muss.
Eines Tages tritt aus dem Dschungel der Welt der Prinz auf die Bühne, der die Schwester entführen wird, oder die Prinzessin, die den Bruder aus den Armen der Familie reißt. Es ist dieZeit der ersten Liebe zu einem Fremden. Damit endet unwiderruflich die verspielte und verträumte Kindheit der Geschwister und das Abenteuer des gemeinsamen Aufbruchs in ein neues Leben. Die Geschwisterliebe steht vor einer schicksalhaften Wende.
Die psychologische Herausforderung besteht in erster Linie in der Verarbeitung der Trennung. Obwohl sie in den seltensten Fällen real erfolgt, wird die Zuneigung des Geschwisters zu einem anderen Menschen häufig als Trennung und Verlassenwerden, sogar als Verrat an der gemeinsamen Geschichte erlebt. Wie dramatisch der Ablösungskampf sein kann, wie schmerzhaft die Aufgabe, das geliebte Geschwister nicht nur teilen, sondern an einen Fremden abgeben zu müssen, und bis zu welcher Heftigkeit der Ausbruch von Wut, Eifersucht und Neid dabei gesteigert werden kann, hat Thomas Mann, wenn auch ironisch verfremdet, in der bereits zitierten Erzählung »Wälsungenblut« psychologisch meisterhaft gestaltet.
Die beiden früher genannten Gefahren, die Anklammerung und die Ausstoßung, werden besonders durch den Einbruch des Fremden in die Einmaligkeit der Geschwisterliebe
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