Geschwister - Liebe und Rivalitaet
manchen Stellen des Gesprächs fallen kurze Augenblicke auf, in denen sie ihren Redefluss unterbricht, dabei in die Leere schaut und wie abwesend wirkt.
»Wo waren Sie gerade?«, frage ich sie an einer Stelle.
»Bei meinem Bruder«, sagt sie, »er passt so gar nicht in die heile Welt meiner Familie.«
Es stellt sich heraus, dass der vier Jahre jüngere, unverheiratete, kinderlose und allein lebende Bruder schon vor Jahren wegen einer Parkinsonerkrankung seinen Beruf aufgeben musste und seit einiger Zeit unaufhaltsam in die Pflegebedürftigkeit abgleitet.
»Er war schon immer ein Sorgenkind, aber jetzt käme er nicht mehr allein zurecht, wenn ich mich nicht um ihn kümmern würde«, ergänzt Frau M.
»Das stelle ich mir sehr belastend vor, und wahrscheinlich haben Sie das schon einmal mit Ihren Eltern durchgemacht.«
»Ja, besonders mit meiner Mutter; sie war lange bettlägerig und ich habe sie bis zu ihrem Tod gepflegt.«
»Bei so viel Krankheit kann man doch selbst krank werden, oder?«
»Sie meinen seelisch?«
»Ja, zuerst seelisch und dann reagiert der Körper mit allerlei leichten bis schweren Zimperlein.«
»Ich sehe da keinen Zusammenhang!«, sagt Frau M. entschieden.
»Was könnte es sonst sein? Sie erzählten am Anfang, Sie hätten zwei Geschwister.«
»Ja, da ist noch Elli, die verrückte Nudel«, Frau M. lacht, lacht etwas zu laut, »die hat sicher nichts mit meinen Maleschen zu tun.«
Elli ist die Mittlere der drei Geschwister, zwei Jahre jünger als Frau M. Bis vor zwei Jahren war sie Grafikerin in einer Werbefirma, verdiente gut und kündigte mit 60 Jahren, um, wie sie begründete, endlich »ein freies Leben« zu führen. Auch sie hat zwei inzwischen erwachsene Kinder, die in einer anderen Stadt leben. Mit ihrem vor vielen Jahren von ihr geschiedenen Mann verbindet sie eine gute Freundschaft.
»Sie haben offenbar manche Gemeinsamkeiten und verstehen sich gut.« Frau M. lacht wieder, lacht wieder etwas zu laut: »Schon als Kinder und auch später waren wir unzertrennlich.«
»Und heute?«
»Naja, nach ihrer frühzeitigen Berentung hat sie sich so verändert, dass wir kaum noch Kontakt haben.«
»Was ist geschehen?«
»Eigentlich nichts Schlimmes, aber für meine Auffassung ist sie geradezu leichtsinnig und exotisch geworden. Ich verstehe sie einfach nicht mehr.«
Wie ich erfahre, machte Elli kurz nach der Kündigung mit ihrem damaligen Lebenspartner eine Bergtour in den Himalaya, bei der sie durch einen rasenden Sturm beinahe umgekommen wäre. Kaum erholt, nahm sie an einer Trekkingtour durch den kolumbianischen Urwald teil und nach weiteren zwei Monaten als einzige Reisende an einer 1 4-tägigen Kamelsafari mit zwei Beduinenführern in der Sahara. Immer hatte sie ihre Fotoausrüstung dabei und wollte ihre Bilder später »künstlerisch« bearbeiten.
Während Frau M. über ihre Schwester erzählte, und je länger ich zuhörte, umso unmerklicher glitt sie in eine traurige Stimmung.
»Warum werde ich jetzt so traurig?« fragt sie, »ich gönne es ihr doch, auch wenn ich selbst nie so leben könnte.«
»Aber vielleicht wollten!?«
Diese als Frage formulierte Deutung riss die Abwehr vonFrau M. plötzlich auf. Bei ihrer Intelligenz und Introspektionsfähigkeit ließ sich in fünf Sitzungen, die die Beratung insgesamt in Anspruch nahm, der Zusammenhang zwischen ihren Krankheitssymptomen und der ihnen zugrunde liegenden Depression klären und auflösen. Die seit der Kindheit weitgehend geteilten Wertordnungen und Familientraditionen zerbrachen in dem Moment, in dem die jüngere der beiden Schwestern die Grenzen ihrer sozialen Angepasstheit aufstieß, während die ältere ihre Ausbruchswünsche durch eine verstärkte Verantwortung und Fürsorge abzuwehren versuchte. Dieser Versuch musste misslingen, weil der Neid, die Rivalität und die Aggression von Frau M. auf die »verrückte Nudel« durch deren neue Gewohnheiten und Regelverstöße zu stark mobilisiert wurden. Die ausgelöste Depression drückte den gescheiterten Abwehrversuch aus und verursachte die somatischen Beschwerden.
Der Konflikt zwischen Frau M. und ihrer Schwester Elli dürfte auf einige zeittypische Wandlungen der Geschwisterbeziehung im höheren Alter hinweisen. Auch wenn dieser spezielle Aspekt nach meiner Kenntnis bisher nicht erforscht ist, erscheinen mir einige Überlegungen zu den Ursachen des Wandels notwendig. Denn daraus ableitbare Konflikte lassen sich leichter lösen, wenn man die tiefer liegenden
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