Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Lebzeiten die Öffentlichkeit beschäftigt, da die Brüder ihre kontroversen Meinungen nicht nur privat austrugen. 29 Auch wenn beide als Schriftsteller den gleichen Beruf ausübten, wichen sie in ihrer Auffassung über Literatur, Politik und Weltanschauung lange Zeit so weit voneinander ab, dass ihre darüber geführte Auseinandersetzung exemplarisch für die Funktion der konstruktiven Kritik im Rahmen einer tiefen Geschwisterliebe stehen kann.
Heinrich Mann (1871 – 1950) und Thomas Mann (1875 – 1955) waren in ihrer unbekümmerten Kindheit und Jugend aufs Engste miteinander verbunden, weil sich ihre kreativen Talente sehr früh entwickelten und in ihren Spielen, Fantasien und Träumen zusammenflossen. Auch wenn Thomas unter der Überlegenheit seines älteren Bruders gelitten hat, hinderte dies die beiden nicht, sich in ihrer ersten Begegnung mit Literatur, Philosophie, Musik und Kunst und in ihren eigenen frühen Schreibversuchen gegenseitig anzuregen und zu ergänzen.
Das »brüderliche Welterlebnis«, wie Thomas es nannte, fand einen Höhepunkt in einem gemeinsamen Italienaufenthalt zwischen 1896 und 1898 in Palestrina und Rom. In völliger Ungebundenheit nutzten sie diese Zeit schöpferischer Freiheitzur intensiven Diskussion und konkreten Planung erster Romanentwürfe. Aber schon kurze Zeit später gerät die enge Beziehung in eine schwere Krise, die gut 20 Jahre dauern soll. Zwischen 1900 und 1922 (für Heinrich das 30. bis 50., für Thomas das 25. bis 45. Lebensjahr) leben die beiden sich auseinander und entwickeln ihre eigenen Überzeugungen, was die Aufgaben der Literatur betrifft. Völlig unterschiedliche Romankonzeptionen sind das Ergebnis. Während für Heinrich die Darstellung gesellschaftlicher Realität und politischer Zusammenhänge in den Mittelpunkt rückt, vertritt Thomas eine der reinen Kunst verpflichtete Literatur, in der die psychologische Dimension des Menschlichen in einer bis zum äußersten ästhetisierten Sprache ausgeleuchtet wird. Die Kritik, die die Brüder an ihrem jeweiligen Literaturverständnis üben, zielt eigentlich auf ihre unterschiedlichen Temperamente, Leidenschaften und Weltanschauungen, die in ihren Romanen ihren Ausdruck finden. Dass der Streit darüber zeitweilig so »unversöhnlich« schien, hängt mit dem langen Ablösungskampf zusammen, mit dem Thomas seine eigene Identität – und das heißt für ihn seinen eigenen schriftstellerischen Stil – entwickeln und sich von dem übermächtigen Einfluss des Bruders abgrenzen musste.
Wenn man die Literaturquellen liest und mit den Originaltexten der Brüder vergleicht, insbesondere mit ihrem Briefwechsel, gewinnt man den Eindruck, dass in der öffentlichen Rezeption der »Bruderzwist« ein übermäßiges Gewicht bekommt und teilweise als Sensation behandelt wurde – ein Phänomen, das uns aus anderen Zusammenhängen bereits bekannt ist: 30 »Bruderfeindschaft« ist aufregender als Bruderliebe. Die Originalquellen zeigen dagegen, dass bei aller Schärfe der Kritik beide Brüder sich gegenseitig immer auch ihre neidlose Anerkennung und Bewunderung für die Leistung des anderen ausgedrückt haben und öffentlich vertraten. Die Tatsache, dass in den langen Jahren des Konfliktes der Kontakt zwischen beidennie abbrach, dass sie regelmäßig persönliche und familiäre Ereignisse austauschten, dass sie sich schließlich nicht nur äußerlich versöhnten, sondern auch in vielen Einschätzungen und praktischen Konsequenzen einen hohen Grad an Übereinstimmung erreichten – zum Beispiel in Bezug auf das Dritte Reich und den Zweiten Weltkrieg –, belegt sehr deutlich, dass der berühmte »Bruderzwist« Ausdruck einer tiefen Verbundenheit und Liebe war. Die kritische Funktion dieser Liebe, verbunden mit einer äußerst produktiven Konkurrenz, diente beiden nicht nur dazu, sich im Interesse der eigenen Identitätsfindung voneinander abzulösen, sondern auch den anderen vor extremer Einseitigkeit und Erstarrung zu schützen. Von den verschiedenen Stationen des Exils aus kämpften sie beide gegen den Hitlerfaschismus und den Krieg, bis sie sich in Kalifornien wiedertrafen und mit ihren Familien bis zum Tod von Heinrich Mann eine enge Lebensgemeinschaft bildeten.
Geschwisterliebe im mittleren Erwachsenenalter. Ein wichtiger Punkt soll das Thema abschließen: die Ehe- und Lebenspartner der Geschwister. Bereits in der Pubertät oder Adoleszenz war bei der ersten Verliebtheit eines Geschwisters der oder die
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