Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Fremde aufgetaucht. Wir hatten von einer entscheidenden Wende in der Geschwisterbeziehung gesprochen und auf die Aufgabe der Akzeptanz und Integration des Fremden hingewiesen. Durch Heirat oder langjährige Partnerschaft stehen die Geschwister im mittleren Erwachsenenalter noch einmal vor einer neuen Herausforderung. Und das nicht, weil Verliebtheit oder auch Liebe in der Pubertät in der Regel flüchtiger und weniger verbindlich sind und deswegen die Geschwisterbeziehung weniger bedrohen, sondern weil Heirat einen grundsätzlich neuen Status einleitet, den ich noch einmal unter systemischen Gesichtspunkten beschreiben möchte. In der Pubertät blieb das Gesamtsystem Familie durch das Eindringen des Fremden in seiner Grundstruktur erhalten. Das Subsystem der Geschwister wurdedadurch zwar labilisiert, aber ihre Rolle als Kinder nicht aufgehoben. Wie wir bereits sahen, wird ein Gesamtsystem dadurch verändert, dass ein Teilsystem seine bisherigen Gesetze umschreibt. Dies geschieht bei der Heirat, ob mit oder ohne Kinder; der definitive Erwachsenenstatus verwandelt das bisherige Geschwistersubsystem in ein reales oder potenzielles Elternsubsystem und das bisherige Eltern- in ein Großelternsubsystem. Neben dem Generationswechsel erfolgt gleichzeitig mit der Heirat eine personale Erweiterung des Gesamtsystems, was zu einer zusätzlichen Veränderung seiner Regeln führt. Die Regeln heißen: Akzeptanz und Integration des neuen Partners mit allen bestehenden Rechten und Pflichten, das heißt Gleichberechtigung als teilnehmendes Mitglied eines veränderten Gesamtsystems.
Wenn man berücksichtigt, wie groß in der Regel die Beharrungstendenz von Systemen ist, die ihrer Natur nach konservativ strukturiert sind – das gilt im Allgemeinen für alle Systeme –, wird man ermessen können, mit welchen Anforderungen an die Flexibilität jeder Familie und insbesondere der Geschwisterbeziehung die Heirat eines Geschwisters verbunden ist. Die Schwierigkeiten potenzieren sich erwartungsgemäß mit jeder weiteren Heirat von Geschwistern, weil dadurch das Subsystem ebenso wie das Gesamtsystem gezwungen werden, sich an die neuen Bedingungen anzupassen.
Zeitlich fällt der gewaltige Umstrukturierungsprozess in die Lebensmitte. Er erfordert von jedem Einzelnen ein hohes Maß an Offenheit, Bereitschaft, Toleranz, Verständnis, Flexibilität und – Liebe, um die neuen Partner der Geschwister in einer möglichst konfliktfreien Atmosphäre annehmen zu können.
Das Thema Heirat und Partnerschaft von Geschwistern hätte auch bereits in das vorangehende Kapitel über das frühe Erwachsenenalter gepasst. Bei der Entscheidung, es an diese Stelle zu rücken, waren praktische Erfahrungen maßgebend. Nach ihnen entfalten sich Konflikte im Gesamtsystem durchdie neuen Partner bevorzugt erst im mittleren Lebensalter. Von ihrer Lösung hängt es ab, ob sich die Geschwisterbeziehung als stabile Grundlage des neuen Familiensystems durchsetzen kann oder ob die Geschwisterliebe bereits in diesem Lebensabschnitt ihren konfliktreichen Abschluss findet.
9. Lebensvielfalt und neuer Aufbruch im höheren Alter
Die 6 3-jährige Studienrätin Frau M. sucht mich auf Empfehlung mehrerer Ärzte mit der Frage auf, ob bei ihr eine Psychotherapie sinnvoll und notwendig sei. Sie schildert eine Reihe von Krankheitssymptomen, für die die verschiedenen Fachärzte keine organische Ursache gefunden hätten und deswegen seelische Gründe vermuteten. Tatsächlich ist die Liste ihrer Beschwerden nicht gerade kurz: ein schwer behandelbarer Bluthochdruck, wiederkehrende Rückenschmerzen, eine Neigung zu Kopfschmerzen und Magenbeschwerden und zwei Hörstürze in den beiden letzten Jahren.
Frau M. ist eine sympathische Frau, mit der man schnell in Kontakt kommt. Sie erzählt freimütig ihre Vorgeschichte, bei der mir zunächst nichts Besonderes auffällt. Sie ist seit 30 Jahren glücklich verheiratet, hat zwei inzwischen auch verheiratete Töchter, die zu den Eltern einen regelmäßigen und herzlichen Kontakt pflegen. »Kein Wunder«, sagt sie dazu, »ich bin ja auch eine ideale Großmutter, die man für die inzwischen drei Enkel gut gebrauchen kann.« Ihren Beruf als Lehrerin habe sie immer gerne ausgeübt und wolle auch bis zur Pensionierung an der Schule bleiben.
Frau M. ist der Typ zupackende Frau, die ihr Leben gut im Griff zu haben scheint und sich mit großem Verantwortungsgefühl für alle Familienangelegenheiten und auch im Beruf voll einsetzt. Nur an
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