Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Zeiten sind alle diese Widersprüche durch die Informationsgesellschaft mit ihrer täglichen Nachrichten- und Bilderflut in uns eingewandert und bestimmen nach Jahrzehnten solcher Erfahrungen, verstärkt also im höheren Alter, unser Weltbild entscheidend mit.
Zu diesen Widersprüchen summiert sich nach meinem Eindruck besonders in der heutigen Generation der über 6 0-Jährigen ein weiterer, der im öffentlichen Bewusstsein wenig benannt und gekannt wird: der Widerspruch zwischen unserem eigenen relativ sorgenfreien und geschütztem Dasein und unserem schmerzhaften Wissen über unsere Geschichte. Viele Menschen dieser Generation leiden als die erste Nachfolgegeneration der Täter noch heute, oder besser, im Alter verstärkt, unter einer tiefen und unaufgelösten Scham über den von Deutschen begangenen Holocaust.
Noch etwas ist in diesem Zusammenhang erwähnenswert. Im höheren Alter sind wir nicht mehr so stark von unseren täglichen Pflichten und Aufgaben abgelenkt, so dass Erinnerungen an unsere Kindheit und Jugend immer größeren Raum einnehmen. Für die meisten Menschen der hier gemeinten Generation sind es die Erinnerungen, gespeicherten Bilder und die häufig traumatischen Erfahrungen ihrer Kriegs- und Nachkriegskindheit, die aus den Schatten der Vergangenheit auftauchen.
Dieser neue Blick nach innen hängt außerdem damit zusammen, dass sich im Alter die Abwehrfunktionen des Ich abschwächen und die schmerzhaften und ängstigenden Erlebnisse der frühen Zeit nicht mehr so gut verdrängt oder verleugnet werden können. Die daraus ableitbare erhöhte Sensibilität im Alter betrifft die Geschehnisse der Vergangenheit ebenso wie die Umwelteinflüsse der Gegenwart.
Wenn man alle bisher genannten Thematiken zusammennimmt, mit denen sich ältere Menschen auseinandersetzen müssen, erscheint die Annahme plausibel, dass in diesem Alterdas vielleicht charakteristischste und am tiefsten reichende Gefühl dem Leben und der Welt gegenüber die Ambivalenz ist. Dieses Gefühl lässt die Gegensätze von Freude und Leid, Mitleid und Verachtung, Lust und Schmerz, Freiheit und Gefesseltsein, Stolz und Scham, Selbstbehauptung und Schuld, Hoffnung und Verzweiflung und von Genuss und Ekel unaufgelöst. Deswegen ist die Ambivalenz ein so schwer auszuhaltendes Gefühl. Sie verlangt nach einer Lösung. Hier setzt der Wandel der Lebensgewohnheiten ein, der im höheren Alter so häufig zu beobachten ist. Und wir erkennen plötzlich die Funktionen, die die meisten der Aktivitäten ab jetzt übernehmen sollen. Bergtouren, Wüstenwanderungen, drei Urlaube im Jahr, Sport treiben, das Engagement in einem Umweltverband oder einem anderen Verein, die zahllosen Gelegenheiten zu ehrenamtlicher Tätigkeit, Singen in einem Chor, ein Instrument erlernen, Tango tanzen, kein Konzert versäumen, kein Schauspiel, keine Kunstausstellung, ein Malkurs, ein Kurs für kreatives Schreiben, Yoga, Gymnastik. Die Möglichkeiten der Neugestaltung oder Erweiterung des eigenen Lebensradius scheinen unbegrenzt. Sie bedeuten Lebensvielfalt, Freiheit und Aufbruch. Oft als Hobby oder reine Freizeitbeschäftigung verniedlicht, sind sie viel mehr. Sie stiften Halt, Freude, Sinn, Orientierung und soziales Miteinander. Aber ihre psychodynamisch wichtigere und tiefer reichende Funktion liegt, das ist die hier vertretene Hypothese, in der Spannungsabfuhr von Affekten, die durch die unerträgliche Ambivalenz mit ihren äußeren und inneren Widersprüchen und den belastenden Kindheitsmustern hervorgerufen werden. So muss in heutiger Zeit jeder ältere Mensch den für ihn geeigneten Weg finden, um den Affektstau aufzulösen, statt an ihm zu erkranken.
Was haben diese scheinbar entfernten Überlegungen mit dem Wandel von Geschwisterbeziehungen oder gar der Geschwisterliebe im höheren Alter zu tun? Ich glaube, dass diehier erörterten Zusammenhänge den Blick genauer auf eine theoretisch bisher unerforschte und in der Praxis kaum genutzte Dimension geschwisterlicher Kontaktmöglichkeiten richten. Kehren wir zur Erklärung noch einmal kurz zu Frau M. und ihrer Schwester Elli zurück.
Bereits im ersten Gespräch mit Frau M. entstand der Verdacht eines Zusammenhangs zwischen ihren Krankheitssymptomen und den verdrängten Affekten gegen ihre Schwester. Zu deutlich war ihre Enttäuschung über deren radikal veränderte Lebensgewohnheiten, wodurch ihrer beider gefühlsmäßige Verbundenheit abbrach. Frau M. fühlte sich allein gelassen und neidete Elli ihr freies Leben,
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