Geschwister - Liebe und Rivalitaet
während sie sich selbst als die älteste der Geschwister verantwortungsvoll und pflichtbewusst verhielt.
In der zweiten Stunde fragte ich sie, ob sie eine Vermutung über die Motive ihrer Schwester zu ihrer Veränderung habe und ob sie jemals darüber gesprochen hätten. Frau M. verneinte. Als Elli auch noch anfing, wie eine der berühmten wilden Frauen ihre Sexualität frei auszuleben, habe sie sich zu sehr über diese Entwicklung aufgeregt, als dass sie noch ein persönliches Gespräch gesucht hätte.
Zum dritten Gespräch kam sie sichtlich aufgewühlt. Das habe sie ja nicht ahnen können. Angeregt durch die letzte Stunde habe sie Elli gefragt, und diese habe ihr in einem langen Nachtgespräch Einsichten und Gedanken mitgeteilt, die Frau M. vorher unbekannt waren und ihre Einstellung zur Schwester umgekrempelt hätten. Es war ein Gespräch über Ellis Innenbefindlichkeit und Gefühlsverfassung als Reflexe auf eine immer undurchschaubarer, unkalkulierbarer und surrealer werdende Welt. Ihre Schwester hatte zum Beispiel früher nie darüber gesprochen, wie sinnlos und pervertiert ihr schon seit Langem der Beruf als Grafikerin vorgekommen war, in dem sie teuerste Luxusartikel bewarb, während ihr täglich wie in einemFilm die Bilder von hungernden und sterbenden Säuglingen und Kleinkindern durch den Kopf gingen, zwölf Millionen jährlich insgesamt durch Armut, Unterernährung und vermeidbare Krankheiten.
»Deswegen habe ich so früh gekündigt, ich hielt es nicht mehr aus, ich musste mich von diesem ganzen Wahnsinn befreien und neue Weichen in meinem Leben stellen«, habe Elli mehr herausgeschrien als gesprochen, wie Frau M. erzählte.
Diese neue Dimension der Begegnung der beiden Schwestern löste den entstandenen Konflikt zwischen ihnen auf. Frau M. konnte akzeptieren, dass Elli anders als sie selbst die Strömungen der Zeit aufsaugte und sich anverwandelte, im positiven wie im negativen Sinne, und dass sich unterschiedliche Lebensmodelle zwischen ihnen herausgebildet hatten. Am Ende unserer Gespräche erkannte sie, wie sich auch bei ihr mit dem nahenden Berufsende Gefühle und Wertevorstellungen änderten und ihr die Neudefinition ihrer bisherigen Rolle bevorstand.
10. Wiederannäherung im hohen Alter
Hartmut Kasten verdanken wir die gründlichste Auswertung aller empirischen Untersuchungen über Geschwisterbeziehungen in den letzten Lebensjahrzehnten. Die Beziehung gilt generell nicht nur zeitlich als die längste des Lebens, sondern zeichnet sich auch durch den höchsten Grad an einer sozial verlässlichen Kontinuität aus. Alle anderen Sozialbeziehungen erweisen sich als wesentlich flüchtiger. 31 Auch weil diese Kontinuität, so Kasten, nicht allein durch die frühe emotionale Bindung erklärt werden könne, zählten viele Forscher und vorallem Poeten die Geschwisterbeziehung zu den mythischen Erfahrungen menschlicher Existenz.
Worin liegt ihr Wert im hohen Alter? Um die Frage zu beantworten, muss man zunächst einräumen, dass es bei der Variabilität der Altersgrenzen auf dem Hintergrund einer durchschnittlich hohen Lebenserwartung keine befriedigenden Definitionen von höherem und hohem Alter gibt. Reine Altersangaben erweisen sich besonders für diesen Lebensabschnitt als künstlich, weil sie die biologische, geistige, seelische und soziale Bedingtheit des Alters und die Unterscheidung zwischen gefühltem und realem Alter unberücksichtigt lassen. Insofern sind Überschneidungen unvermeidbar, wenn man beide Altersbereiche getrennt beschreiben will. Sinnvoll erschien es mir daher, mich im letzten und in diesem Kapitel auf einige mir wesentlich erscheinende Schwerpunkte zu beschränken.
In diesem Kapitel sollen die vier großen Abschiede im Vordergrund stehen, die dem schwersten und letzten, dem eigenen Tod, vorausgehen – der Abschied von den Eltern, die Ablösung von den Kindern, die endgültige Verarbeitung des Berufsendes und die Bewältigung des Sterbens eines Geschwisters im Alter.
Der Tod der Eltern als natürliches Ereignis wird von vielen Menschen deswegen so schwer verarbeitet, weil er mit der endgültigen Einsicht in das immer ersehnte, nie ausreichend Dagewesene und nie mehr Erreichbare verbunden ist – mit dem definitiven Verlust der Liebe der Eltern. Die Sehnsucht nach ihr überdauert das Leben bis zu ihrem Tod, der gleichzeitig auch den Abschied von der regressiven Illusion bedeutet, irgendwann in diesem Leben doch noch die immer vermisste Liebe zu erhalten.
Mit
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