Geschwister - Liebe und Rivalitaet
die jeder behalten wollte, gab es keine Diskussion; jeder wusste vom anderen, was ihm wichtig war.Nach diesem so erfahrenen Abschied von den Eltern entstand eine neue Dimension der Nähe und Zusammengehörigkeit zwischen uns, die jetzt wohl durch kein Ereignis mehr gefährdet werden kann. Das Testament unserer Eltern war gerecht. Auch das erfüllt mich mit Dankbarkeit.
16. Wege der Versöhnung
Der Kältetod der Geschwisterliebe, ihre Verhärtung und Versteinerung bis zum endgültigen Kontaktabbruch gehören zu den besonders traurigen Erfahrungen im Leben von Geschwistern. Da die Beziehung durch keine andere ersetzt werden kann, erzeugt ihr Verlust eine schmerzhafte Lücke, die, besonders im fortschreitenden Alter, die Einsamkeit vermehrt. Solange Geschwister miteinander streiten, existiert ein Kontakt. Der Streit mag noch so verletzend und zermürbend sein – immer drückt er auch einen Wunsch nach Beziehung aus. Manche Geschwister erwecken den Eindruck, als würde ihre Beziehung durch nichts anderes als durch Streit zusammengehalten. Ihre Streitrituale sind Teil ihres Lebens geworden, wobei die raffiniertesten Methoden im Kampf um Vormacht und höheres Recht zum Einsatz kommen. In Familien- und Paartherapien kennt man solche anal-sadistischen Kollusionen besonders gut. Das Geheimnis ihrer Dennoch-Zusammengehörigkeit liegt in der heimlichen Lust am eigenen Leiden wie an der Zufügung von fremdem Leiden. Auch zänkische Geschwister können darin wahre Weltmeister sein, weil ihnen in ihrer langen Gemeinschaft keine noch so kleine Schwäche des anderen verborgen geblieben ist, die sich nicht lustvoll aufspießenließe. Es ist eine Liebe der besonderen Art. So erbarmungslos und fremd sie Außenstehenden erscheinen mag, und besonders solchen, die nicht über eine angemessene Streitkultur verfügen, so erstaunlich stabil kann in diesen Geschwisterbeziehungen das Gefühl der Zusammengehörigkeit und Verbundenheit sein.
Geschwister zu haben ist ein unvermeidbares Lebensschicksal. Wir haben genügend Gründe kennen gelernt, warum die ursprüngliche Geschwisterliebe schon von früher Zeit an durch eine Beimischung destruktiver Gefühle getrübt und im Extremfall zerstört werden kann. Das damit verbundene Leiden und der Verzicht auf eine lebendig gelebte Beziehung sind Anlass genug, nach Wegen der Versöhnung zu suchen. Wenn man unterstellt, dass in jedem Menschen entgegen allen Verdrängungsversuchen die Sehnsucht nach ursprünglicher Nähe und Vertrautheit erhalten bleibt, ist es bei Durchsicht der Geschwisterliteratur erstaunlich, wie wenig bisher die Frage nach Möglichkeiten einer neuen Verständigung diskutiert wurde. Die Lücke ist auch deswegen zu bedauern, weil hinlänglich bekannt ist, wie wenig unsere Sozialisation innerhalb und außerhalb der Familie daran orientiert ist, den Umgang mit zwischenmenschlichen Konflikten zu »erlernen«. Wo immer sich Menschen begegnen, ob in der Schule, in der Arbeitswelt, in Freundschaften, in Paarbeziehungen oder bei Geschwistern, stößt man immer wieder auf den Widerspruch zwischen dem Wunsch nach einem möglichst harmonischen Einverständnis und der oft totalen Unfähigkeit, Meinungsverschiedenheiten auszutragen und Spannungen zu lösen. Was sich häufig als mangelnde Bereitschaft oder gar als Weigerung zur Klärung von Differenzen tarnt, verbirgt ebenso oft lediglich die Unsicherheit und das Unvermögen dahinter. Wenn sich solche defensiven Haltungen über einen langen Lebenszeitraum eingeschliffen haben, folgt daraus eine resignative Einstellung, diejeden Versuch zu einer Konfliktlösung schon im Ansatz verhindert. Es handelt sich dabei um einen negativen Lernprozess, der zur Unflexibilität und zu wachsenden Anpassungsschwierigkeiten führt. Da jedoch das meiste menschliche Leiden aus unbewältigten zwischenmenschlichen Konflikten resultiert, gehört die Forderung nach einer »Konfliktpädagogik« im weitesten Sinne seit Langem in den Bestand humanistischer Sozialisationsbemühungen. In ihrem Rahmen ist eine Aufklärung wichtig geworden, die nicht nur kognitive Lernschritte anleitet, sondern die auch eine emotionale korrigierende Erfahrung ermöglicht, wie sie zum Beispiel in den verschiedenen Formen der Selbsterfahrung oder im Rahmen psychologischer Beratungen und psychotherapeutischer Behandlung erlebbar wird.
Ich möchte als Beispiel etwas ausführlicher auf eine eindrucksvolle Erfahrung aus einer Gestalttherapiegruppe eingehen, die ich selber eine Zeit lang als
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