Geschwister - Liebe und Rivalitaet
Teilnehmer besucht habe. Ingrid war eine 4 0-jährige , beruflich erfolgreiche Frau; sie lebte seit mehreren Jahren alleine mit ihren beiden Kindern und war seit ihrer Scheidung keine Beziehung zu einem Mann mehr eingegangen. Der Gruppe war schon des Öfteren aufgefallen, dass sie bei vordergründiger Freundlichkeit keine Gelegenheit ausließ, um gegen Renate zu sticheln, die mit ihrer Situation als Hausfrau in einer stabilen Ehe mit ebenfalls zwei Kindern recht zufrieden war. In einer Sitzung forderte die Therapeutin nach einer erneuten bissigen Bemerkung von Ingrid die beiden Frauen auf, sich in der Mitte des Kreises auf zwei Kissen gegenüberzusetzen und sich gegenseitig mitzuteilen, was sie voneinander hielten. Renate war die Jüngere, aber sie wirkte gelassener und abwartend. Ingrid kritisierte zunächst an ihrem Äußeren herum, sie ziehe sich ungeschickt an, sei zu dick und ihre Frisur geradezu »bescheuert«. Bei der letzten Bemerkung machte sie eine fast unmerkliche Bewegung mit beiden Händen, bei der sie die Finger leicht krümmte. Die Therapeutinbat sie, die Bewegung zu wiederholen, sie zu verstärken und zu beschleunigen. Was dann geschah, hatte niemand vorhergesehen. Ingrid schaute zunächst etwas ratlos auf ihre Hände; die Bewegung war ihr nicht bewusst gewesen. Sie versuchte sie zu imitieren, und während sie sie immer mehr übertrieb, schienen die Finger zu langen Tentakeln auszuwachsen. Ingrid geriet in heftige Erregung; sie hob die Arme, und die Finger wirbelten jetzt wie packende und reißende Furien durch die Luft. Hasserfüllt schaute sie Renate an, und während der Rhythmus ihrer Hände immer schneller wurde, richtete sie die Arme bedrohlich auf Renates Kopf und schrie plötzlich heraus: »Ich hasse dich!« Mit Mühe konnte sie ihre Hände bremsen, bevor sie sich in Renates Haaren verkrallten. Sie erschrak. Dann ließ sie sich auf den Boden sinken und fing bitterlich an zu schluchzen. Die Therapeutin legte eine Hand auf ihre Schulter, ohne den Gefühlsstrom zu unterbrechen.
Der Leser vermutet längst, was die Szene an den Tag brachte. Die Gruppe saß lange schweigend im Kreis und schmolz zu einem Körper zusammen, der durch seine emotionale Bewegung und Anteilnahme jede Angst vergessen ließ, sich so zu erleben, zu fühlen und anderen zu zeigen, wie man es in dieser Offenheit bisher in seinem Leben vielleicht noch nie getan hatte. In solchen Augenblicken kann eine Gruppe tatsächlich eine Art uteriner Schutzraum sein, der alle Kleinheit und Schwäche auffängt. Ein solches Erlebnis bedeutet eine »korrigierende emotionale Erfahrung«, die neue Weichenstellungen im Leben ermöglicht. 48
Als sich Ingrid wieder aufrichtete, war sie sehr erschöpft, aber in ihrer Gelöstheit wirkte sie völlig verändert. In ruhigen Worten konnte sie jetzt von ihrem Schwesternschicksal erzählen, von ihrer Liebe und ihrem Hass und vor allem von ihrer Traurigkeit, dass die Beziehung seit Jahren unterbrochen war. Am Schluss der Sitzung nahm sie Renate in den Arm: »Du bistdoch gar nicht meine Schwester. Entschuldige!« »Ist schon gut.« Gemeinsam verließen die beiden den Gruppenraum.
In der nächsten Stunde dankte Ingrid der Gruppe für die Hilfe in der letzten Sitzung und bat sie, den Brief vorlesen zu dürfen, den sie inzwischen ihrer Schwester geschrieben hatte.
»Liebe Elli! Nach langer Zeit des Schweigens schreibe ich dir heute in dem Wunsch, endlich den Eisberg aufzutauen, der sich zwischen uns getürmt hat. Gestern hätte ich dir beinahe sämtliche Haare ausgerissen. Das war in einer Gestalttherapiegruppe, in der eine Teilnehmerin mich sehr an dich erinnerte, ohne dass es mir bewusst war. Der Hass, der plötzlich in mir aufstieg, war schrecklich. Als er heraus war, musste ich nur noch weinen. Wir haben uns doch früher so geliebt! Warum muss das Leben das zerstören?
Nach den Enttäuschungen, die wir uns beide bereitet haben, glaubte ich, du seist mir völlig gleichgültig geworden. Erst jetzt weiß ich wieder, wie viel an Gefühl für dich in mir ist. Mein Hochmut wird dich gekränkt haben. Dabei war er nur ein Schutz gegen deine Verletzungen. Ich habe damals nicht verstanden, warum du meine Scheidung nicht akzeptieren konntest und warum du dich danach so stark von den Kindern zurückgezogen hast, mit denen ich plötzlich allein dasaß (ein Grund für mich, in die Gruppe zu gehen). Ich fühlte mich durch deine Vorwürfe schuldig und wollte dir nicht auch noch meine ›selbstverschuldete‹ Einsamkeit
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