Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
eine gestörte Balance chemischer Prozesse im Körper. Wenn sie recht haben, wenn es an den Genen liegt oder an nachlassender synaptischer Plastizität oder einem anderen Defekt im Gehirn, sind vielleicht Pillen und Pülverchen das richtige Mittel dagegen. Allerdings ist bisher nirgends bewiesen worden, dass die chemischen Veränderungen im Gehirn, die diese Wissenschaftler feststellen, die Ursache und nicht die Folge der depressiven Erkrankung sind. Außerdem bleibt die Frage, warum gerade heute diese Defekte vermehrt auftreten, aus dieser Perspektive unbeantwortet. Die Mehrheit der Mediziner ist denn auch der Meinung, dass soziale Faktoren wie Stress, Vereinsamung, mangelnde Anerkennung im Beruf und im Privatleben sowie Statusangst bei der Auslösung der Krankheit eine wichtige, wenn nicht die zentrale Rolle spielen. Wenn sie Recht haben, ist es mit Pillen und Pülverchen sicher nicht getan.
Der technokratische Glaube an die Machbarkeit des Glücks hat in den achtziger Jahren vor allem einige Pharmakologen zu euphorischen Prognosen veranlasst, was die Behandlung von depressiven Erkrankungen angeht. »Sie hätten sich keinen besseren Augenblick in der Geschichte der Menschheit aussuchen können, um sich unglücklich zu fühlen.« Mit diesem Satz eröffnet der Psychiater Mark Gold sein Buch The Good News about Depression 12 Die gute Nachricht, die ihn so euphorisch stimmte, waren die neuen Antidepressiva, die damals auf den Markt kamen. Aber inzwischen wissen wir, dass möglicherweise mit diesen Mitteln zwar eine Zeitlang die Symptome der Depression ausgeschaltet, nicht aber ihr tieferer
Grund behandelt wird. Seit einiger Zeit beobachten Ärzte und Psychologen sogar so etwas wie resistente Depressionen. Alain Ehrenberg kommt denn auch in seinem Buch zu einer Schlussfolgerung, die in eine ganz andere Richtung weist: »Im Zeitalter der unbegrenzten Möglichkeiten symbolisiert die Depression das Unbeherrschbare. Wir können unsere geistige und körperliche Natur manipulieren, wir können unsere Grenzen mit verschiedenen Mitteln zurückdrängen, aber diese Manipulation befreit uns von nichts.« 13
Gerade das auch von Delumeau festgestellte periodische Auftreten von Angstwellen legt den Verdacht nahe, dass soziale und damit geschichtlich variable Faktoren für die Zunahme depressiver Erkrankungen zumindest mitverantwortlich sind. In diesem Zusammenhang ist eine auffällige historische Parallele vielleicht erhellend. Wie Barbara Ehrenreich in ihrem Buch Dancing in the Streets – The History of Collective Joy detailliert beschrieben hat, gab es im ausgehenden 16. und im 17. Jahrhundert eine, damals Melancholie genannte, Epidemie allgemeiner Lebensangst und Lebensunlust. Die Autorin sieht den Hauptgrund für die damalige Depressionswelle in der um diese Zeit schnell um sich greifenden kalvinistisch-puritanisch geprägten Lustfeindlichkeit, in der rigiden Einschränkung aller öffentlichen Feste und Lustbarkeiten und der damit einhergehenden Vereinzelung der Menschen. Vermutlich spielen in diesem Zusammenhang auch noch andere Besonderheiten der kalvinistisch-puritanischen Lehre und Glaubenspraxis eine Rolle: zum Beispiel, dass sich die Menschen, wenn sie der neuen Lehre folgten, einer prinzipiell unbeeinflussbaren göttlichen Instanz gegenübersahen, die nach unergründlichem Ratschluss Gnade gewährt oder Verdammnis verordnet. Möglich auch, dass die den gläubigen Puritanern abverlangte selbstquälerische Gewissenserforschung
und Lebensbuchführung als ein besonderer Stressfaktor wirkte.
Es liegt nahe, bei der Suche nach den Gründen für die aktuelle Depressionswelle den Blick auf in ihren Wirkungen vergleichbare Entwicklungen in der modernen Gesellschaft zu lenken. Alain Ehrenberg hat in seiner Studie Das erschöpfte Selbst – Depression und Gesellschaft in der Gegenwart diesen Zusammenhang umfassend untersucht. So erscheint es einigermaßen plausibel, dass die mit der neoliberalen Revolution zusammenhängenden Veränderungen der Arbeits- und Lebenswelt hier eine zentrale Rolle spielen. Moderne Managementstrategien und moderne Formen der Arbeitsorganisation setzen fast immer auf die Internalisierung von Marktbeziehungen. So wie der gläubige Puritaner sich unmittelbar dem unbegreiflichen und unbeeinflussbaren Richtspruch seines Gottes ausgesetzt sah, so sieht sich der arbeitende Mensch heute zumeist der schicksalhaften Gewalt des Marktgeschehens und dem irrationalen Geschehen an der Börse ausgeliefert.
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