Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
sieben Tage in der Woche und 365 Tage im Jahr, sondern auf dem rhythmischen Wechsel von Anspannung und Entspannung, von Aktivität und Reflexion, von vorwärtsdrängender Neuerung und kritisch prüfendem Rückblick, von zielgerichteter Arbeit und ausgelassener Feier.
Auch ist es keineswegs ausgemacht, dass die moderne Beschleunigung des Wandels, dass die Schnelligkeit, mit der technische Innovationen und verbesserte Produktgenerationen einander ablösen, ausschließlich und auf Dauer als Bereicherung des Lebens empfunden wird. Dieser Prozess, der einerseits als Fortschritt gedeutet und begrüßt wird, generiert nämlich ein vertracktes Sinnproblem, worauf der Soziologe Gerhard Schulze in seinem Buch Die beste aller Welten hingewiesen hat. Die moderne Steigerungslogik, so Schulze, führe in der Konsequenz dazu, dass jede Leistung (und jede Erwerbung), sobald sie getätigt sei, sogleich wieder entwertet werde, weil sofort die möglichen Verbesserungen bzw. die schon entwickelten besseren Produkte in den Blick gerieten. Wenn aber die erwarteten Gratifikationen des Fortschritts sich nicht mehr einstellen, weil das soeben Erreichte sich als schon nicht mehr gut genug erweist, wird Leistung auf Dauer sinnlos, schlägt Genuss in Frustration um. Die Redewendung, dass das Bessere der Feind des Guten sei, wird oft gedankenlos zur Rechtfertigung beschleunigter Innovation verwendet. Was aber, wenn die Menschen die moderne Steigerungslogik so weit verinnerlichen, dass
es für sie gar kein fraglos Gutes mehr gibt – nichts, das man vorbehaltlos bejahen, für das man Dankbarkeit empfinden könnte, sondern nur noch Verbesserungsbedürftiges? Ist es dann nicht zu erwarten, dass sie inmitten aller Innovations- und Fortschrittshektik immer häufiger von Trauer und einem Gefühl der Vergeblichkeit allen menschlichen Strebens heimgesucht werden?
Paul Virilio hat 2010 in einem Gespräch mit Bertrand Richard einen anderen Aspekt der Beschleunigung als Grund der wachsenden Angst bezeichnet. In diesem Zusammenhang weist er darauf hin, dass »die Angst ein konstitutives Element der Lebensweise wird, ein Element der Art der Beziehung zur Welt der Phänomene«. 16 Sie sei nicht mehr gerichtet wie die Furcht, sondern eine allgemeine Disposition, eine Weise, die Welt zu betrachten. Seiner Meinung nach ist die sich in allen Bereichen des sozialen Lebens durchsetzende Beschleunigung mit ihrer Konsequenz der Schrumpfung des Raums selbst der eigentliche Grund für die Ausweitung der Angst. »Heute ist es die begrenzte, saturierte, geschrumpfte Welt selbst, die uns umklammert und in eine Art Klaustrophobie ›hineinstresst‹: die um sich greifenden Börsenkrisen, der blinde Terrorismus, die rasenden Pandemien, die ›berufsbedingten‹ Selbstmorde ... Die Angst ist Welt geworden, Panik im Sinne von ›Totalität‹.« 17 Dies dürfe allerdings, das fügt er hinzu, nicht so verstanden werden, dass die zahlreichen Gefährdungen, die in dieses Bedrohungspanorama eingeordnet werden, nicht wirklich existierten.
Wer heute mit Sorge in die Zukunft blickt, wer den Beteuerungen der Technokraten, man habe alles zuverlässig im Griff, misstraut, ist nicht notwendig im klinischen Sinn depressiv
oder ein krankhafter Hypochonder. Auch wäre es töricht, so jemanden als Angsthasen oder Weichei lächerlich zu machen. Die Durchökonomisierung der Gesellschaft und die von manchen als Angst-Lust-Rausch erlebte Beschleunigung der Veränderungsprozesse sind ja tatsächlich gefährlich. Schwer ersetzbare Rohstoffe werden tatsächlich knapp, sodass die Gefahr von Ressourcenkriegen wächst, wie das SIPRI-Jahrbuch 2011 warnend hervorhebt. Die Nutzung der Atomkraft birgt tatsächlich Gefahren, die nicht beherrschbar, weil nicht eingrenzbar sind, und das blinde Vertrauen der Betreiber von Kernkraftwerken darauf, dass ihnen bezüglich des ungelösten Entsorgungsproblems schon noch rechtzeitig etwas einfallen wird, ist tatsächlich unverantwortlicher Leichtsinn. Dass Terroristen, welcher Couleur auch immer, sich in den Besitz von strahlendem Material oder gar Atomwaffen bringen, ist keineswegs ausgeschlossen, vielmehr wahrscheinlich. Niemand, der bei Verstand ist, leugnet heute noch den Klimawandel, und wenn die Berechnungen des Ökonomen Nicholas Stern halbwegs zutreffen, werden uns dadurch so gigantische Kosten entstehen, dass von einem Nettonutzen des wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Fortschritts unseres Typs keine Rede mehr sein kann. Kein Wunder
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