Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
Der Unterschied ist freilich, dass in unserer Gesellschaft die Vorstellung vorherrscht, dass jeder der souveräne Gestalter seines Ichs und seines Lebens ist oder zumindest sein sollte. »Die autonome Handlung«, schreibt Ehrenberg in seinem 2012 erschienenen Buch Das Unbehagen in der Gesellschaft, »ist der am höchsten bewertete Handlungsstil, derjenige, den wir am meisten erwarten und den wir am meisten achten. « 14 Überall werden die Reste patriarchalischer und hierarchischer Herrschaft in Unternehmen und Betrieben abgebaut, wird Verantwortung auf die Arbeitenden übertragen – ohne ihnen freilich Einfluss auf die Bedingungen einzuräumen, unter denen sie operieren. Daraus resultiert ein Zwang zur Selbstinstrumentalisierung und Selbstökonomisierung, der bei vielen zu einer gefährlichen Selbstüberforderung und in
der Folge oft zu Versagensängsten führt. Ganz ähnlich, wie der gläubige Puritaner angehalten wurde, über sein Tun und Lassen ununterbrochen Rechenschaft abzulegen und es am Maßstab der strengen religiösen Gesetze zu messen, wird vom modernen Arbeitnehmer verlangt, dass er sich in allem, was er tut und was er ist, ständig zum Zweck möglichst günstiger Quartalsergebnisse optimiert.
Eine besondere Perfidie besteht darin, dass die neuen Zwänge ideologisch zu neuen Freiheiten umgedeutet werden und damit in einer Gesellschaft, die Emanzipation, Selbstbestimmung und Eigeninitiative zur allgemeinen Norm erhoben hat, nur schwer offen kritisiert und verarbeitet werden können. Die rastlose Anpassung des eigenen Selbst an die wechselnden Bedingungen seiner Verwertbarkeit wird von den Propheten des Neoliberalismus als allseitige Entfaltung der eigenen Persönlichkeit gefeiert, der Zwang zu exzessiver Mobilität als Befreiung aus provinzieller Enge und Abhängigkeit, die uferlose Flexibilisierung der Arbeitszeiten und die Job-Hopperei als Überwindung nervtötender Routine. Kein Wunder, dass immer mehr Menschen, die unter den modernen Arbeitsverhältnissen leiden, sich ihrer Schwäche schämen, statt zu protestieren. Sie fühlen sich alleingelassen und unverstanden, suchen insgeheim die Schuld für alle Beschwernisse bei sich selbst. Wenn sie trotzdem über ihr Arbeitsleid reden, erscheinen sie fast zwangsläufig als unemanzipiert, wehleidig und rückwärtsgewandt. Von allen Seiten wird ihnen empfohlen, »positiv« zu denken, nur ja den Kopf nicht hängen zu lassen, sondern sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen, es nach jedem Scheitern noch einmal und noch energischer zu versuchen.
Der verordnete Optimismus und Aktivismus kann, wie Günter Scheich in seinem Buch Positives Denken macht krank nachgewiesen hat, alles noch schlimmer machen. Wenn man den
Menschen ständig sagt: »Du schaffst, was du willst!« – so ein Buchtitel von Erich J. Lejeune –, sie es aber allzu offensichtlich keineswegs immer schaffen, wenn in unserer Gesellschaft nur noch Leistung zählt und die Schwachen und weniger Glücklichen, die Arbeitslosen und Sozialhilfeempfänger als Versager stigmatisiert werden, dann muss es nicht verwundern, wenn es bei vielen Menschen zu einer fundamentalen Erschütterung des Selbstbewusstseins kommt. Wenn Lebenserfolg heißt, der Beste zu sein oder zumindest in die Medaillenränge zu kommen, egal, in welchem Leistungsfeld man sich tummelt, dann sind massenhaftes Versagen und Frustration programmiert, denn die Rangplätze sind nicht beliebig vermehrbar und Gewinner gibt es nur, wenn es viele Verlierer gibt.
Und die Gewinner, die, die es schaffen, es immer wieder unter Anspannung aller Kräfte und getrieben von Versagensangst doch noch einmal schaffen? Irgendwann brechen vielleicht auch sie zusammen, leiden unter Nervosität, Übermüdung, Konzentrationsschwäche, Bluthochdruck, Schlaflosigkeit. Sie fühlen sich taub und leer, sind ausgebrannt. Burnout heißt das entsprechende modische Fachwort für diesen Zustand, oder japanisch: karoshi . Möglich, dass die Betroffenen von der Überforderung all die Jahre gar nichts ahnten, bis es auf einmal gar nicht mehr ging. Möglich auch, dass sie lange Zeit den kraftstrotzenden Macher und unverwüstlichen Optimisten nur spielten, weil sie glaubten, dass sie das sich selbst und ihrer Umwelt schuldig seien. Mittlerweile wissen wir aus vereinzelten Äußerungen, die nach dem großen Crash von 2008 kursierten, dass auch die Stars der globalisierten Finanzwelt, die hyperaktiven Masters of the Universe, sich ihrer Sache keineswegs so
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