Gesellschaft in Angst - Zwischen Sicherheitswahn und Freiheit
sicher waren, wie sie glauben machten. Nur sind sie in der Regel, als ihre Kartenhäuser zusammenstürzten, nicht zur Verantwortung gezogen worden. Und darum machen die meisten von ihnen, wie wir heute erleben, einfach weiter, als sei gar nichts geschehen, schicken ihre Kinder in
einen Elitekindergarten, wo sie schon mit drei Jahren Chinesisch lernen, und danach auf ein Internat in England, damit sie spätestens mit achtzehn ihr Studium der Finanzwirtschaft antreten und schon mit sechsundzwanzig die erste selbstverdiente Million auf dem Konto haben.
Kann es sein, dass der zur Schau gestellte Optimismus der Marktradikalisten und Technikfantasten in Wirklichkeit nur ein lautes Pfeifen im dunklen Wald ist, das ihre und unsere Angst übertönen soll? Vielleicht wissen auch sie im Grunde oder ahnen zumindest, dass es so nicht auf Dauer, dass es so gar nicht mehr lange weitergehen kann. Vielleicht versagen sie sich und uns nur deswegen jedes Innehalten und jeden Moment der Besinnung, weil auch ihnen klar ist, dass man über den Zustand der Welt und über ihre Zukunft nur allzu leicht ins Grübeln gerät, wenn man einen Augenblick innehält, den Blick schweifen lässt und sich fragt, wozu das alles gut sein soll.
Es gibt ja heute gute Gründe, mit Sorge in die Zukunft zu blicken. Wir erleben immer wieder, dass die bisher so zuverlässige, die moderne Entwicklung begleitende Methode, Gefahren zu Risiken umzudeuten – d.h., sie versicherungstechnisch zu vergesellschaften, ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu berechnen und gegebenenfalls für (monetären) Schadensausgleich zu sorgen –, in immer mehr Bereichen nicht mehr funktioniert, weil nicht nur gegen Krieg und Terror, sondern auch gegen Atomunfälle, das Versinken einer Ölplattform im Meer, einen Chemieunfall wie in Bhopal, außer Kontrolle geratene Genmanipulationen oder die Klimakatastrophe keine Versicherung mehr hilft. Die erstaunlich große Risikoakzeptanz, die unsere Gesellschaft bisher auszeichnete, wird dadurch untergraben. »Wo sie (die moderne Gesellschaft, d.V.) an die Grenzen der Versicherbarkeit stößt, (...) beginnt der latente Katastrophismus der Risikogesellschaft. Versagt aber
der arithmetische Verharmlosungszauber der Kollektivierung, so hört auch die Risikoakzeptanz allmählich auf.« 15
Dies ist der Zusammenhang, den Petra Steinberger in ihrem ansonsten informativen Artikel Das kann böse enden in der Süddeutschen Zeitung vom 20./21. August 2011 über die moderne Risikoscheu unberücksichtigt lässt. Die auffällige Zunahme der Risikoscheu ist nicht in erster Linie der Überalterung der Gesellschaft geschuldet. Sie auf die Bequemlichkeit alternder Wohlstandsbürger zurückzuführen, die, um ihre Privatidylle nicht in Gefahr zu bringen, jedes Abenteuer, jeden Schritt in unbekanntes Terrain nach Möglichkeit vermeiden, führt in die Irre. Eine solche Moralisierung des Problems übersieht, dass es grundlegende objektive Veränderungen in der Struktur und Dynamik unserer Gesellschaft gibt, die den sozialen Zusammenhalt und die Vertrauensbasis erschüttern und damit auf Dauer auch die Fähigkeit untergraben, mit Risiken einigermaßen gelassen umzugehen.
Die ständige Beschleunigung der Innovation führt schon heute dazu, dass die Auswirkungen neuer Techniken und neuer Produkte auf die Umwelt nicht mehr einigermaßen zuverlässig überprüft werden können. Das, was man in den siebziger Jahren Technikfolgenabschätzung oder vorzugsweise auf Englisch technology assessment nannte, kommt heute systematisch zu kurz. Alles ist immer schneller im Fluss; die Reaktionen der natürlichen Umwelt und der anderen Mit- und Gegenspieler auf den globalen Märkten sind kaum kalkulierbar. Für die gehetzten Akteure bleibt einfach keine Zeit, die Folgen des eigenen Tuns einigermaßen sorgfältig abzuschätzen. Weil die weltweite Konkurrenz nicht schläft, weil in China, Indien und Brasilien Millionen und Abermillionen nur darauf warten, unseren Platz einzunehmen, glauben wir, uns kein Innehalten,
keine Pause, keinen Moment kritischer Selbstbesinnung erlauben zu können. Schon steht der Sabbat, der Sonntag als Zeit der Besinnung und der Reflexion zur Disposition. Feiertage, Gelegenheiten zu kollektiven Festen, werden von den modernen Leistungsanbetern für überflüssig erklärt. Sie vergessen dabei, dass die hochinnovative Kultur Europas bis in die Neuzeit und die Moderne hinein gerade nicht auf besinnungslosem Aktivismus rund um die Uhr beruht,
Weitere Kostenlose Bücher