Gesetze der Lust
nicht finden. Mein Bruder weiß, dass er sich dann vor mir verantworten müsste.“
Suzanne schenkte Elizabeth ein schmales Lächeln.
„Ich bin sicher, dass Sie recht haben. Wegen dem, was mit meinem Bruder passiert ist, kann ich nachempfinden, was Sie fühlen und was …“, Suzanne wählte ihre Worte sorgfältig, „… was Sie getan haben. Ich bin froh, dass Ihr Bruder Ihnen die Absolution erteilt hat. Wenn es Ihnen hilft: Ich hätte sie Ihnen auch erteilt, wenn ich gläubig wäre.“
Elizabeth nahm ihre Schaufel in die Hand und fing erneut an, Löcher in die Erde zu graben. Dieses Mal jedoch wesentlich sanfter.
„Ich finde alleine raus. Ich verspreche, dass alles, was Sie mir erzählt haben, unter uns bleibt.“
„Danke, Ms Kanter. Kommen Sie gut nach Hause.“
Suzanne ging zum Ausgang, blieb aber noch einmal stehen, bevor sie den Türgriff berührte.
„Sie nennen ihn nicht Marcus?“, fragte Suzanne. „Also ich meine Ihren Bruder. Genauso nennen Sie ihn – meinen Bruder. Warum?“
„Er hasst den Namen Marcus. Das ist der Name unseres Vaters.“
„Danke. Ich war nur neugierig. Schönen Abend noch.“
Suzanne griff nach dem Türknauf und hielt noch einmal inne.
„Ich denke, ich verstehe etwas, das Sie nicht verstehen“, sagte sie, als ihr etwas in den Sinn kam, das Elizabeth ziemlich zu Anfang gesagt hatte. „Warum Ihr Bruder nicht auf die Weise aufgewacht ist, mit der Sie gerechnet hatten.“
Elizabeth starrte sie nur an und sagte nichts.
„Sie wollten in der Nacht, dass er aufwacht und Sie umbringt, so wie den Jungen, der ihn in der Schule angegriffen hat. Aber das tat er nicht. Weil er tief und fest schlief. Und er schlief tief und fest, weil er zu Hause war. Und dachte, er wäre in Sicherheit.“
Selbst in dem dämmrigen Licht konnte Suzanne sehen, dass Elizabeth’ Augen funkelten wie zwei glitzernde Amethyste.
„Er hätte es besser wissen müssen. Niemand ist jemals sicher.“
22. KAPITEL
Michael hatte sich in seinem Leben noch nie so sicher gefühlt. Eine seltsame Empfindung, bedachte man die Qualen der letzten zwei Stunden, in denen Spike, die violetthaarige Tattookünstlerin, schwarze Tinte tief in seine beschädigte Haut geritzt hatte. Aber der Schmerz beruhigte ihn, so wie er es immer tat.
Griffins starke Hände gaben Michael eine bisher ungekannte Sicherheit. Nora saß auf der Couch und arbeitete an ihrem Manuskript. Spike verzierte mit ihrer summenden Nadel seine Handgelenke. Doch für Michael existierte außer ihm und Griffin niemand auf der Welt.
Alle paar Minuten hielt Spike inne und füllte ihre Nadel mit neuer Tinte. In diesen Momenten löste Griffin seinen Griff um Michaels Unterarm ein wenig, bot ihm ein Glas Wasser an oder fragte, ob er einmal eine Pause machen wollte. Die Schmerzen hatten ihren Höhepunkt erreicht, und von Michaels Stirn tropften Schweißperlen. Griffin verkündete eine Pause, tupfte Michaels Gesicht ab und ließ ihn ein paar Minuten tief durchatmen, bevor Spike weitermachte. Doch an keinem Punkt fragte Griffin, ob er aufhören wollte oder musste. Und aus irgendeinem Grund bedeutete ihm Griffins Glauben in seine Fähigkeit, die Schmerzen zu ertragen, mehr als alles andere.
„Das war’s, Kumpel.“ Spike lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und streckte sich. „Das ist alles, was wir heute tun konnten. Nun muss es erst einmal heilen. In sechs Wochen machen wir die Feinarbeit.“
Michael löste seinen Blick von Griffins Augen und schaute auf seine Handgelenke. Während der ganzen Tortur hatte er seinen Blick fest auf Griffins Gesicht gerichtet gehabt, nicht auf Spikes Nadel. Er hasste es, seine Narben zu sehen, hasste die Erinnerung an den Moment der Verzweiflung und Dummheit, der zu ihnen geführt hatte. Und noch musste er etwas oder jemand anderen auf der Welt finden, den er lieber anschaute als Griffin. Doch als er jetzt seine Handgelenke betrachtete, nahmer ihren Anblick tief in sich auf – nicht mit dem üblichen Ekel, den er die letzten drei Jahre über jeden Tag empfunden hatte, sondern mit Ehrfurcht.
„Wow …“, hauchte er. „Spike, das ist …“
„Verdammt wunderschön“, sagte Griffin und berührte die Haut rund um das noch immer leicht blutende Tattoo.
Die schwarzen Flügel, die seine beiden Handgelenke bedeckten, waren wirklich wunderschön. Irgendwie war es Spike gelungen, aus Haut und Tinte die Illusion von zarten Federn zu zaubern. Und die Narben … sie waren weg. Die wütenden, erhabenen Relikte von Michaels
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