Gesetzlos - Roman
Furcht erfüllt hatte, es könne sich dort für immer niederlassen.
Ich beugte mich vor und drückte mit den Lippen einen flüchtigen Kuss auf das Knie meiner Geliebten, auf den rosafarbenen Fleck ihrer Narbe, und sie strich mir mit der Hand übers Haar.
Wir lächelten uns an. (Was für ein göttliches Lächeln sie doch hatte, ich wiederhole dies zum letzten Mal!)
Sie hatte Lust auf Tee (sie trank nur selten welchen) und fragte mich, ob ich auch welchen mochte. Ich antwortete mit ja. Zwar trinke ich lieber Kaffee als Tee, aber sie schien den Wunsch zu haben, dass ich mit ihr Tee trank, und ich wollte ihr einfach einen Gefallen tun, ihr eine Freude machen. Sie fügte hinzu:
»Mit frischem Zwieback vom Markt. Ich merke, dass ich zum Abendessen keinen Hunger haben werde, aber jetzt hätte ich Appetit auf einen in Tee getunkten Zwieback mit Butter und Marmelade.«
»Na dann los«, sagte ich. »Ich helfe Ihnen, unser nächtliches Frühstück vorzubereiten.«
Die Dunkelheit brach herein, das Licht im Wohnzimmer nahm zusehends ab.
Nach dem Tee – ich mag dieses Getränk nicht, aber ich muss anerkennen, dass der Zwieback frisch, schmackhaft golden, knusprig und schmelzend zugleich war – überkam Clara eine unbezwingbare Müdigkeit.
»Ich werde mich etwas hinlegen«, sagte sie.
Ihre Schritte waren unsicher. Ich stützte sie und so stiegen wir gemeinsam hinauf ins obere Stockwerk.
Sie streckte sich aus. Ihr Blick löste sich nicht mehr von meinem.
Der Moment war gekommen.
Ich setzte mich neben sie, und endlich war unser Kuss von aller Zurückhaltung befreit, von dem jüngst erwähnten zarten Kokon der Keuschheit befreit, es war ein Kuss der völligen, reinen Begierde – wenn das Leben erst verflogen wäre, und es verflog nur allzu rasch in diesen Tagen und Stunden, wäre keine Zeit mehr, um unsere sanften Körper zu genießen!
Clara schlief, ohne Kleider. Ich betrachtete ihre Schönheit.
Ich würde umziehen. Ich würde meine Wohnung verlassen. (Mein heiliger Onkel Pepe würde mir verzeihen.) Ich würde in Saint-Maur in ihrer Nähe wohnen. Wir würden unser Leben als Musiker führen, spielen, komponieren, uns mit anderen Musikern austauschen.
Ich würde meine Werke in meinem Laden am Boulevard Sucatraps im Bastille-Viertel aufnehmen, das ich in ein Studio verwandelt hätte. (Die Unterzeichnung der Urkunde war für September vorgesehen.)
Aber vor allem, ja, vor allem (gleich morgen) würde ich die besten Graphologen aufsuchen und ihnen Axels Tagebuch zum Entziffern geben.
An Weihnachten würden Clara und ich einige Tage im Süden Frankreichs bei Alma Perez verbringen.
Doch während ich mich diesen Zukunftsgedanken hingeab, wurde ich von einer ganzen Armee von Fragen attackiert. War ich wirklich ein wenig Albin, Claras Großvater (hatte ich geprüft, ob die Stunde seines Todes und meiner Geburt übereinstimmten? Ja, ich hatte es geprüft), der in Form dieses Vierzeilers unbekannter Herkunft in mein Wesen geschlüpft war und mir auf diese Weise erlaubt hatte, eines Tages seiner Enkelin zu begegnen? War ich ein wenig Maxime, Maxime und sein Vermögen, das einem Lebensfluss glich und das er mir vermacht hatte, als sein Leben das Ende erreicht und meines zu einem Neubeginnansetzte? War ich Irène und ihr totes Kind? War ich Axel und tausend andere, die ich nicht kannte?
Mit welcher Ungeduld würde ich auf den Beweis des Graphologen warten!
Wenn Axels Geschichte nämlich wahr ist, ist alles wahr, ich könnte es zwar nicht beweisen, will es aber glauben. Ja, aber was soll ich bis dahin, bis zu diesem Beweis, von all dem halten? Und wie soll ich es nennen? Zufälle, Träume und Albträume, ein Haufen Hirngespinste (»ein dicker Mantel aus Stroh, der mich vor dem Feuer bewahrt«,
Gesetzlos
, Kapitel 12 ), die ich als Gerüst zu meinem Schutz und zu meiner Rettung gebraucht habe (andere Gestalt), während ich versucht habe, mir zu verbergen, dass ich vermutlich aus Gefilden stamme, in denen die Gebäude zusammenbrechen, sobald man das Gerüst abbaut?
Erneut verwirrt sich mein Geist.
Ich wusste nicht, ich wusste nicht mehr, plötzlich wusste ich gar nichts mehr.
Nachdem ich mich Claras sanfter Umarmung entwunden hatte, glitt ich aus dem Bett.
Das granatrote Kleid lag am Boden.
Und ich ging in mein Eckzimmer (nur für einen kurzen Moment, danach würde ich zu Clara zurückkehren – zumindest dachte ich das – nein, ich konnte mir nicht vorstellen, dass ich Clara in dem Moment zum letzten Mal gesehen haben
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