Gesetzlos - Roman
eine klingende Liebkosung.
Neun Scheiben rohen Schinkens (dazu vier Kalbsschnitzel) wurden beglichen. Dann kam Clara mir wieder entgegen, wobei ihr kurzes granatrotes Kleid sie mit einem Schlag Verzögerung begleitete. Die Spur jener Schramme, die sie sich in Opera über dem Knie zugezogen hatte, war verblasst, zu einem rosafarbenen Fleck mit unscharfen Umrissen, wie eine kunstvolle Verzierung ihres gebräunten Schenkels.
Wir setzten unsere Einkäufe fort, Brot, frischen Zwieback, Spargel und Obst.
Ich betrachtete Clara im prallen Sonnenlicht.
Bevor wir den Markt verließen, blieben wir stehen und sahenuns in die Augen. Sie beugte sich vor und küsste mich, unsere geschlossenen Lippen berührten sich.
Dies war unser erster Kuss.
Dann drückte ich sie fest an mich und vergrub das Gesicht in ihrem Haar.
»Am 6. Juni ’66 auf den Tag vor zweiundvierzig Jahren schied ich …« Was mag eine solche Aussage bedeuten? Dass der, der sie ausspricht, auferstanden ist? Dass es ein Leben nach dem Tod gibt und es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte einem Toten gelungen ist, mit den Lebenden zu kommunizieren, ihnen so etwas wie einen Brief, einen langen Brief zu schreiben, den Bericht über sein neues Leben? Dass die geistige Kraft, die den Menschen antreibt, just im Moment seines Todes in den Körper eines Neugeborenen schlüpft? (Das jedenfalls glaubte Maxime, oder zumindest wollte diese verzweifelte Figur das glauben. Er kam an einem Abend vor zwölf Jahren, als wir unseren Geburtstag bei ihm feierten, mit weniger Ironie als sonst darauf zu sprechen, daran erinnere ich mich noch genau.) Seit einigen Tagen kann ich selbst nicht umhin, dies in Betracht zu ziehen, um genau zu sein: seit dem 2. Juni – jenem Tag, an dem ich Clara begegnete, unter Umständen, die es uns beiden unmöglich machten, dem anderen sein Leben
nicht
bis ins intimste Detail zu erzählen. Wenn ich genau in jener Stunde zur Welt gekommen bin, in der Claras Großvater verschied (den Punkt muss ich noch prüfen), und wenn tatsächlich er, Albin Nomen, einst den kurzen Vierzeiler in das Tagebuch seiner Tochter Lucie, Claras Mutter, geschrieben hat …
Das Rätsel (wenn es denn eins gibt) wird zu gegebener Zeit gelüftet werden – oder an Verworrenheit gewinnen, das weiß ich noch nicht, und jene Schlichtheit und Klarheit verlieren, die allem Anfang innewohnt und die auch ich ihm gern verleihen würde, mit anderen Worten, wenn mich der dichte und flüchtige Strom der Wirklichkeit, die ich mich anschicke wiederzugeben,wieder fortgerissen hat, komme ich vielleicht nie wieder mit so ausdrücklicher Klarheit auf dieses Rätsel zu sprechen.
Auf diesem Gebiet, muss man’s erwähnen, ist natürlich alles unbewiesen. Der Leser wird sich seine Meinung bilden, wenn und wann er es wünscht.
Was mich betrifft, so haben die unerhörten Begebenheiten, die sich seit Maximes Tod zugetragen haben, mich nur verwirrt – ganz zu schweigen von der geradezu unvorstellbaren Begebenheit, die sich in den Nachmittagsstunden dieses Markttags am Freitag, den 6. Juni 2008 ereignen sollte und die meinen Wunsch zu glauben auf den Gipfel trieb.
Mit Lebensmitteln versorgt überquerten wir die Rue de l’Église.
Welch ein Glück dabei zuzusehen, wie Clara ging, wie sie sich durch den Raum bewegte, so körperlos und fleischlich zugleich, die langen Beine, ihr helles Haar, das bei jedem Schritt wippte, die Schultern nur einen Hauch stärker gebräunt als der übrige Körper, ein Meisterwerk beweglicher Harmonie, als wäre sie auserwählt worden, den Wesen eines anderen Planeten die Vollkommenheit des menschlichen Gangs hinsichtlich Mechanik und Anmut vorzuführen, in jedem Augenblick natürlich und doch auch überraschend wie ein Flusslauf, wie das Wachstum einer Pflanze oder wie ein Musikstück, dessen Verkörperung sie wäre und das sich nun sichtbar in der Zeit abspielen würde, Melodie, Verzierungen, Akkorde.
Wir stiegen die linke Seite der Rue de l’Église hinauf (die Marktgeräusche verebbten), legten ein paar Dutzend Meter zurück (ich ließ drei Erdbeeren fallen, sie blieben im Staub liegen, was soll’s), dann bogen wir rechts in die breite, von zahlreichen Bäumen gesäumte Impasse du Midi.
Es war, als beträte man ein Wäldchen aus Pappeln, Eichen, Kastanien (eine Art, die sich im Herbst rot färben würde – wie oft hatte ich sie doch im Laufe der Jahre sich zur Herbstzeit rot färben sehen!), Buchen, auch Birken und Judasbäume mit ihrengewundenen Stämmen,
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