Gesichter der Nacht
Junge. Im obersten Fach liegt ein Album.«
Marlowe tat wie geheißen und reichte Papa Magellan das
altmodische, in rotes Saffianleder gebundene Fotoalbum. »Schauen
Sie sich das an«, sagte Magellan und schlug eine bestimmte Seite
auf.
Marlowe drehte das Album herum, damit er besser sehen
konnte. Einen Moment lang dachte er, er hätte Maria vor sich.
»Ist das ihre Mutter?« fragte er.
Papa Magellan nickte. »Ja, das war meine Maria. Wie Sie se
hen, gleichen sich die beiden wie ein Ei dem anderen.« Er
lächelte sanft und klappte das Album zu. »Nicht nur
äußerlich. Meine Frau war von Natur aus neugierig –
ähnlich wie Maria.« Er zuckte die Achseln und gab Marlowe
das Album. »Das ist ein Fehler, den die meisten Frauen
haben.«
Marlowe stand auf und legte das Album ins Fach
zurück. Als er dabei war, die Schranktür zu schließen,
bemerkte er in der Ecke eine Schrotflinte, teilweise von
aufgehängten Kleidern verdeckt. Er nahm sie heraus und betrachtete
sie genau. Es war eine Waffe mit doppeltem Lauf, schön poliert und
ziseliert. Er pfiff leise durch die Zähne. »Die muß
eine Stange Geld gekostet haben.«
Papa Magellan lächelte. »Ja. Aber ich mag
das – eine gute Flinte. Es hat mal eine Zeit gegeben, da bin ich
gern am frühen Morgen durch die Felder gestreift und habe ein,
zwei Tauben geschossen. Aber das ist jetzt vorbei.« Er beugte
sich vor und versuchte, in den Schrank zu sehen. »Irgendwo im
obersten Fach müßte auch eine Schachtel Patronen
stehen.«
Marlowe fand sie ohne Schwierigkeiten. »Ja, da ist sie.«
»Gut!« sagte Papa Magellan. »Dann
nehmen Sie die Flinte. Sie und Mac können sich damit auf den
Feldern hinterm Haus vergnügen.«
Marlowe grinste. »Wir werden uns vorstellen, daß wir auf O'Connor ballern.«
Er untersuchte die Schrotflinte, und es trat ein
kurzes Schweigen ein, das der alte Mann brach. »Maria ist in Sie
verliebt, nicht wahr?«
Marlowe blickte langsam auf. Er zögerte einen
Moment. Dann zuckte er die Achseln. »Ich nehme es an.«
Der alte Mann nickte. »Ich hab's
von Anfang an gemerkt.« Er lächelte freundlich und fuhr
fort: »Sind Sie auch in sie verliebt?«
Marlowe lachte rauh. »Ich bin in niemand
verliebt, Papa. Ich habe andere Sorgen.« Er schüttelte den
Kopf und erhob sich. »Ich möchte nirgends angebunden sein.
Das kann ich mir nicht leisten.«
Der alte Mann nickte, und seine Augen trübten
sich ein wenig. »Dann ist es besser, wenn Sie bald gehen. Sonst
muß Maria zu sehr leiden.«
Marlowe nickte seufzend. »Ich bedaure das, Papa.
Aber Sie brauchen sich deswegen keine Gedanken zu machen. Ich wollte
sowieso bald gehen. In einer Woche vielleicht. Wenn alles so
läuft, wie es soll, haben wir O'Connor bis dahin zur Vernunft
gebracht. Und wenn ich fort bin, haben Sie immer noch Mac. Er ist ein
guter Mann.«
Magellan nickte und lächelte man. »Sie
auch, mein Junge, Sie auch. Unterschätzen Sie sich nicht.«
Er hustete ein paarmal und lehnte sich in die Kissen zurück.
»Dieses Problem, weswegen Sie nicht nach London wollen…
ist das ein schlimmes Problem?«
Marlowe blieb an der Tür stehen, die Schrotflinte
unterm Arm, und schüttelte den Kopf. »Nur ein paar alte
Freunde von mir, die mich sehen wollen. Aber ich will sie nicht
sehen«, sagte er. »Nichts, mit dem ich nicht fertig
würde.«
Der alte Mann nickte zufrieden, und die Augen fielen
ihm zu. »Gut«, sagte er. »Freut mich zu hören.
Und jetzt werde ich eine Weile schlafen.« Marlowe schloß
leise die Tür und stieg die Treppe hinunter.
Den Rest des Nachmittags ging Maria ihm aus dem Weg.
Beim Abendessen sprach sie nur mit Mac und tat so, als sei Marlowe
Luft. Zunächst amüsierte es ihn, aber nach einer Weile
empfand er leisen Groll, der im Laufe des Abends noch zunahm.
Er und Mac verbrachten mehrere Stunden
damit, den Motor des Lastwagens, der die Fahrt nach London machen
sollte, zu überprüfen und zu warten. Dann luden sie mit der
größten Sorg falt die Kisten und Körbe voll Obst und
Gemüse ein. Marlowe ließ den Jamaikaner in der Scheune
zurück – er traf noch ein paar letzte Vorbereitungen –
und lief durch die Dunkelheit auf das Haus zu.
Maria saß in der Küche am Feuer und las
eine Illustrierte. »Mac fährt gleich los«, sagte er.
»Ich bringe ihm die Thermosflasche und die Sandwiches, wenn du
willst.«
»Das schaffe ich auch allein, danke«, erwiderte sie frostig und erhob sich von ihrem Stuhl.
Marlowe
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