Gesichter der Nacht
fahren.«
Marlowe gab ein undefinierbares Knurren von sich und
steckte sich eine Zigarette an. »Heute abend hat jemand bei uns
vorbeigeschaut und Mac bewußtlos geschlagen. Wer war das?
Monaghan und seine Freunde?«
Jenny nickte und musterte Marlowe mit einem
flüchtigen Seitenblick. »Ich habe draußen auf der
Straße gewartet. Ich saß mit meinem Onkel im Auto. Sie
wollten eure Lastwagen demolieren, aber dann bist du plötzlich
aufgetaucht.«
»Die scheinen im Moment recht oft auf dich zurückzugreifen«, sagte Marlowe.
Jenny ging so geschickt wie ein Rennfahrer in eine
schwierige Kurve. »Mein Onkel vertraut mir nicht mehr. Er war
furchtbar böse über das, was neulich bei mir im Hof passiert
ist. Die beiden Freunde von Monaghan müssen immer noch das Bett
hüten. Der eine hat einen Armbruch.«
»Was waren das für Typen, die er heute dabei hatte?« fragte Marlowe.
»Die sind am Nachmittag aus Birmingham
eingetroffen.« Sie schauderte zusammen. »Widerliche Kerle.
Mein Onkel hat mich gezwungen, sie zu begleiten. Sie haben sich
gedacht, daß du anhalten würdest, wenn du mich und mein Auto
siehst.«
Marlowe griff nach der Thermosflasche und
goß sich einen Becher Kaffee ein. »Tja, es hat nicht
geklappt mit ihrem schlauen Plan. Dank meinem Trumpf im
Ärmel.« Als er die Thermosflasche wieder unter den Sitz
stellte, fügte er hinzu: »Du kannst jetzt mal stoppen. Ich
löse dich ab.«
Sie hielten an, und Jenny blieb einen Moment lang
schweigend hinterm Lenkrad sitzen. Dann drehte sie sich zur Seite und
fragte: »Du hättest doch nicht geschossen, oder?«
Entsetzen bebte in ihrer Stimme.
Marlowe blickte sie verwundert an. »Was meinst
du wohl, warum ich diese Schrotflinte mitgenommen habe?« Er
lachte rauh. »Nun sag bloß nicht, daß das aber gar
nicht fair ist. Oder hättest du lieber danebengestanden und
zugesehen, wie Monaghan und seine Freunde mich zur Sau machen?«
Jenny seufzte. »Nein. Irgendwo hast du schon recht.«
Sie räumte den Platz hinterm Lenkrad. Als Marlowe
auf der Sitzbank hinüberrutschte und ihre Stelle einnahm, sagte
er: »Ich bin verdammt sicher, daß ich recht habe. Bei
manchen Leuten ist jedes Mittel erlaubt – und zu diesen Leuten
gehört auch Monaghan.«
Er schloß die Hände ums Lenkrad.
»Nächster Halt: London. Das heißt, wenn's nach mir
geht. Du kannst mitkommen, oder ich setze dich in der nächsten
größeren Stadt ab. Wie du willst.«
»Ich komme mit nach London, wenn du nichts
dagegen hast.« Jenny lehnte sich zurück, und als er die Hand
nach dem Starter ausstreckte, sagte sie: »Hugh, du liebst mich
nicht, oder?«
Er drehte sich zur Seite und blickte in ihre Richtung. »Ich liebe niemand.«
Sie nickte. »Das habe ich mir schon gedacht.«
»Möchtest du immer noch mit nach London kommen?« fragte er.
Er konnte ihr Gesicht im Dunkel nicht erkennen, aber
sie sagte mit fester Stimme: »Ja, ich will immer noch mit nach
London kommen.« Er zog den Starter, und ein paar Sekunden
später fuhren sie wieder.
Es war kurz vor halb acht, als sie beim
Covent-GardenGroßmarkt eintrafen. Das lag an einem
Vergaserschaden unterwegs. Marlowe hatte fast eine Stunde gebraucht, um
ihn zu ent decken und zu reparieren. Das Hauptgeschäft war schon
längst gelaufen, aber Marlowe hatte zu seiner Verblüffung
keine Schwierigkeiten, die ganze Wagenladung an den Mann zu bringen.
Der erste Großhändler, bei dem er es versuchte, ging mit
nach draußen, prüfte die Ware und stellte Marlowe sofort
einen Scheck über hundertsechzig Pfund aus. Und es kam noch
besser: Er wollte, daß ihm am nächsten Tag eine weitere
Fuhre von derselben Qualität geliefert wurde.
Jenny O'Connor sah erstaunlich gut aus, wenn man sich
überlegte, wie sie die Nacht zugebracht hatte. Ihr Rock war aus so
erstklassigem Material, daß er kaum eine Knautschfalte hatte, und
sie zog ein kleines Stück Stoff aus der Tasche und band ihr
flachsblondes Haar zum Pferdeschwanz.
»Du siehst gut aus – selbst für
Londoner Verhältnisse«, versicherte ihr Marlowe, als er mit
dem Lastwagen in der Shaftesbury Avenue hielt, nicht weit vom
Piccadilly Circus entfernt.
Jenny lächelte. »Das kann ich nicht beurteilen, aber ich höre es natürlich gern.«
Er bot ihr eine Zigarette an. »Was hast du vor? Fährst du mit mir zurück?«
Sie schüttelte den Kopf und sagte langsam:
»Nein, ich glaube nicht. Ich fahre mit dem Zug zurück. Ich
brauche Zeit. Ich muß
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