Gesprengte Ketten
Tochter eine Infusion?", fragte sie.
"Ihr Blutdruck ist ausgezeichnet, Frau Ravens. Da bin ich sehr zufrieden." Dr. Marquard setzte sich hinter seinen Schreibtisch. "Ihnen ist sicher aufgefallen, wie schlecht es Ihrer Tochter geht, Frau Ravens. Sie erhält die Infusion, um ihren Kreislauf zu stärken." Er sah Lauras Mutter ernst an. "Lange kann Ihre Tochter so nicht mehr weitermachen. Sie arbeitete zu viel. Bitte wirken Sie auf sie ein, dass sie endlich einmal Urlaub macht. Sie ist völlig erschöpft."
"Weshalb sollte Laura erschöpft sein?" Frau Ravens sah den Arzt verständnislos an. "Sie hat eine wundervolle Arbeit. Nicht sehr viele Menschen haben die Gnade, von zu Hause aus arbeiten zu können. Als ich in ihrem Alter war..."
"Sind Sie wirklich so blind, dass Sie nicht sehen, wie es um Ihre Tochter steht?", fiel ihr Dr. Marquard ins Wort. "Ihre Tochter hat nicht nur ihren Beruf, sondern ist auch noch für den ganzen Haushalt und die Familie zuständig. Meiner Meinung nach beanspruchen Sie Laura mehr, als es nötig ist. Ihre Tochter ist von morgens bis in die Nacht hinein auf den Beinen. Dazu kommen noch persönliche Probleme." Er beugte sich seiner Patienten zu. "Es muss eine Lösung gefunden werden, die Ihrer Tochter gerecht wird."
"Was wissen Sie davon, wie unser Leben ist, Doktor Ma rquard?", fragte Gertrud Ravens empört. "Ich kann nicht von meinem Mann verlangen, dass er Hausfrau spielt. Und Charlotte geht ins Gymnasium. Laura kann sich ihre Zeit einteilen wie sie möchte. Es ist alles eine Sache der Einteilung. Würde sie ihre Zeit nicht mit unwichtigen Dingen vertun, hätte sie mehr Zeit für anderes."
"Meinen Sie mit unwichtigen Dingen Herrn Eckstein?"
"Das geht Sie gar nichts an, Doktor Marquard", sagte Gertrud Ravens außer sich. "Ich muss mir sehr überlegen, ob ich mir unter diesen Umständen nicht einen anderen Arzt suche."
"Frau Ravens, bitte denken Sie an Ihre Tochter. Laura ist in j eder Hinsicht gefährdet. Sie braucht ihr eigenes Leben und ein wenig Glück, wie jeder andere Mensch auch."
"Ich kann nichts dafür, dass ich krank bin, Doktor Marquard."
"Wie war das früher bei Ihnen, Frau Ravens? Haben Sie Ihre Eltern so umsorgt, wie Sie es heute von Ihrer Tochter verlangen?"
"Ich hätte es getan, wenn ich die Gelegenheit dazu gehabt hä tte", antwortete Gertrud Ravens und stand ohne Hilfe auf. Sie war so wütend, dass sie ihre Arthrose völlig vergaß. "Leider sind meine Eltern sehr früh verstorben. Mit zwanzig stand ich allein auf der Welt." Sie wandte sich der Tür zu. "Auf Wiedersehen, Doktor Marquard."
Julian folgte ihr. "Bitte versuchen Sie, eine Lösung zu finden, Frau Ravens. Sie möchten bestimmt nicht Ihre Tochter verli eren."
Gertrud Ravens antwortete ihm nicht. Wortlos verließ sie das Sprechzimmer. Ihr Blick fiel auf Laura, die vor der Rezeption auf sie wartete. "Gehen wir", sagte sie in einem Ton, der keinen W iderspruch duldete.
Die beiden Frauen fuhren mit dem Aufzug in die Tiefgarage hinunter. Schweigend setzte sich Gertrud Ravens in den Wagen ihrer Tochter. Laura fiel nicht einmal auf, dass ihre Mutter kein Wort sagte. Sie lenkte den Wagen aus der Tiefgarage heraus, fuhr durch den Hof und bog in die Hauptstraße ein.
"Was hast du dir nur dabei gedacht, Doktor Marquard die Ohren voll zu jammern?", fragte Gertrud Ravens, als sie die Sibelius-Straße erreichten. "Kannst du dir nicht vorstellen, in was für eine peinliche Situation du mich damit gebracht hast? Doktor Marquard hat jetzt eine schöne Meinung über unserer Familie."
Laura wandte ihrer Mutter kurz das Gesicht zu. "Ich habe mich nicht bei Doktor Marquard über euch beklagt, aber er kann zwei und zwei zusammenzählen. Euch ist völlig gleichgültig, was mit mir ist. In euren Augen bin ich eine Hypochonderin. Vermutlich wäre ich noch auf meinem Tote nbett eine Hypochonderin."
"Ich habe keine Lust, mir diesen Unsinn länger anzuhören", sagte Gertrud Ravens außer sich. "Heute reicht es mir wirklich. Du weiß genau, dass ich mich nicht aufregen darf." Sie presste eine Hand auf ihr Herz.
Laura bog in die Auffahrt ihres Elternhauses ein. Sie öffnete die Wagentür und stieg aus. Ohne sich um ihre Mutter zu kümmern, verließ sie das Grundstück und ging die Sibelius-Straße in Richtung Felder entlang. Sie spürte nicht einmal, dass es zu regnen begann. Sie ging nur einfach weiter und weiter, ohne Ziel, nur mit dem Wunsch, eine Brücke über den tiefen Abgrund zu finden, der sich nur wenige Zentimeter von ihren
Weitere Kostenlose Bücher