Gesprengte Ketten
die beiden Frauen damit beschäftigt, Suppe auszuteilen und Fleisch zu schneiden. Ab und zu warfen sie einen Blick auf die Terrasse, wo sich die Gäste des Professors zum Essen niedergelassen hatten. Es herrschte eine fröhliche, ausgelassene Stimmung.
Nur Dr. Rainer Erlenbusch beteiligte sich nicht an der allg emeinen Unterhaltung. Einsilbig saß er vor seinem fast unberührten Teller. Er verbreitete eine so düstere Atmosphäre um sich, dass seine Kollegen es nicht wagten, ihn anzusprechen. Selbst Prof. Dr. Waller hielt sich zurück.
"Du hast sicher nichts dagegen, wenn ich mich ein wenig um Kollege Erlenbusch kümmere", sagte Julian Marquard leise zu seiner Frau, als sie sich vom Büfett noch etwas Salat ho lten.
"Nein, gewiss nicht", antwortete Laura. Sie hatte selbst schon überlegt, ob sie sich nicht kurz zu Dr. Erlenbusch setzen sollte. Aber über was hätte sie mit ihm sprechen sollen? Er wirkte so unnahbar, so völlig in sich selbst zurückgezogen. Seine düstere Stimmung konnte sie gut verstehen. Im letzten Jahr war seine Frau an einem Bienenstich gestorben und hatte ihn mit dem kleinen Sohn allein zurückgelassen. Es wunderte sie sowieso, dass er der Einladung von Prof. Dr. Waller gefolgt war.
Dr. Marquard trat zu seinem Kollegen. "Erlauben Sie, dass ich mich zu Ihnen setze, Herr Erlenbusch?", fragte er.
Rainer Erlenbusch hob den Kopf. "Bitte, Herr Marquard", e rwiderte er. "Setzen Sie sich ruhig."
Julian stellte seinen Teller auf den Tisch und nahm Platz. "Es ist eine gute Idee von Professor Doktor Waller gewesen, uns heute Abend alle einzuladen. So haben wir Gelegenheit, uns gegenseitig besser kennen zu lernen." Er wies zu Dr. Frank Burghaus hinüber, der seine Freundin mitgebracht hatte. Der Arzt hatte der Schulm edizin abgeschworen und hatte vor einigen Wochen eine Praxis als Heilpraktiker im Ärztehaus bezogen. Er ging völlig in seinem Beruf auf. "Haben Sie sich schon mit Herrn Burghaus bekannt gemacht?"
"Mir steht nicht der Sinn nach neuen Bekanntschaften", sagte Dr. Erlenbusch ablehnend. "Es war keine so gute Idee von mir, heute Abend hierher zu kommen. Ich hätte lieber bei meinem kle inen Sohn bleiben sollen." Er legte sein Besteck an den Tellerrand. "Ich war noch nie sehr gut darin, Konversation zu machen. Meine Frau..." Er sprach nicht weiter. Sein Blick fiel auf die Rosen, die in einem weißen Blumenkübel knapp einen halben Meter entfernt von ihm standen. "Es sind Rosen gewesen, die ihr das Leben gekostet haben. Sie wollte die Rosen in unserem Garten beschneiden. Ich habe ihr immer gesagt, sie soll mit den Blumen vorsichtig sein. Gerade im Hinblick auf ihre Bienenallergie. Ich war nicht zu Hause, als es passiert ist. Als unsere Nachbarin sie gefunden hat, war es schon zu spät. Man hat ihr Leben nicht mehr retten können." Er ballte die Hände zu Fäusten.
"Ich kann verstehen, wie schmerzvoll das noch für Sie ist", antwortete Julian. Nicht auszudenken, wenn ihm so etwas passiert wäre. Er konnte sich ein Leben ohne seine Frau nicht vorstellen. 'Das Leben geht weiter', wollte er schon sagen, schluckte die Worte jedoch im letzten Moment hinunter. Es waren leere, nichts sagende Worte, gesprochen ohne viel nachzudenken. Ja, das L eben ging weiter, aber nicht mit dem geliebten Menschen.
Dr. Rainer Erlenbusch sah ihn lange an. "Nein, das können Sie nicht, Herr Marquard", antwortete er und erhob sich. "Bitte en tschuldigen Sie mich."
Julian Marquard kehrte zu seiner Frau zurück. Sie unterhielt sich mit Dr. Sarah Maiwald, der Kinderärztin, die im dritten Stock des Ärztehauses praktizierte. Laura erzählte ihr, wie sich Sophie neulich mit Halsschmerzen vor der Schule hatte drücken wollen. "Und dann hat sie auch noch behauptet, manchmal könnte man Halsschmerzen nicht sehen, als ihr mein Mann in den Hals scha uen wollte." Sie blickte lächelnd zu Julian auf. "Mal sehen, mit was sie das nächste Mal ankommt."
"Nun, ich habe als Kind einmal ein Streichholz an das Fiebe rthermometer gehalten, damit es steigt", verriet Julian. "Leider ist das Fieberthermometer geplatzt und ich habe vergeblich versucht, das Quecksilber wieder einzufangen."
"Ein sehr gefährliches Unterfangen", bemerkte die Kinderär ztin. "Viele Kinder haben sich dabei schon vergiftet."
"Mein Großvater kam dazu, bevor etwas passieren konnte", sagte Julian. "Er stellte nicht lange Fragen, sondern ergriff mich beim Hosenbund und machte mir handgreiflich klar, was ich da angestellt hatte." Julian tupfte mit der Servierte
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