Gesprengte Ketten
sie ein.
"Danke, dass Sie gekommen sind, Doktor Marquard", meinte er. "Ich kann meine Tochter nicht verstehen. Sie weiß, dass sich ihre Mutter nicht aufregen darf. Trotzdem läuft sie wie ein kleines Kind davon."
"Es ist unserer Schuld, Günther, nicht Lauras", warf Gertrud Ravens ein. "Sie hatten völlig gerecht, Doktor Marquard. Wir haben Laura viel zu viel zugemutet und immer nur an uns selbst gedacht. Ich hatte genug Gelegenheit, darüber nachzudenken." Sie schnäuzte sich in ihr Taschentuch. "Zuerst war ich nur wütend, dann..."
"Laura ist alt genug, um nicht einfach davonzulaufen", sagte Günther Ravens. "Wenn sie mit uns über ihre Probleme gesprochen hätte, hätten wir eine Lösung gefunden."
"Günther, du weißt genau, dass Laura versucht hat, mit uns zu sprechen. Wir wollten ihr nicht zu hören."
"Sie ist von Ihnen schlimmer als eine Sklavin behandelt worden", warf Jannic erregt ein. "Und anstatt ihr beizustehen, habe ich alles nur noch schlimmer für sie gemacht."
Julian Marquard räusperte sich. "Es hilft nichts, sich in Selbstanklagen zu ergehen", sagte er. "Wir sollten endlich mit der Suche nach Laura beginnen. Wenn wir sie innerhalb der nächsten Stunden nicht finden, muss die Polizei verständigt we rden."
Günther Ravens schüttelte den Kopf. "Beim Verschwinden e iner erwachsenen Person leitet die Polizei nicht sofort eine Suchaktion ein", meinte er.
"Wenn diese Person Selbstmord gefährdet ist, ist das etwas a nderes", widersprach Dr. Marquard. "Und in dem Zustand, indem Ihre Tochter ist, müssen wir damit rechnen, dass sie an Selbstmord denkt."
"Laura darf sich nichts antun", flüsterte Gertrud Ravens en tsetzt. "Sie darf es nicht."
Während der nächsten drei Stunden suchten sie die ganze U mgebung ab. Es gab keinen Feldweg und keine Wiese, auf der nicht nach Laura gesucht wurde. Als es dunkler wurde, leuchteten sie mit großen Taschenlampen hinter Buschwerk und Bäume. Immer wieder riefen sie Lauras Namen, aber sie erhielten als Antwort nur ein hektisches Rascheln hinter einem Holzstoß.
Amos, dem Dr. Marquard alle zehn Minuten eine Jacke vor die Nase hielt, die Laura am Morgen getragen hatte, beteiligte sich eifrig an der Suche. Mal scheuchte er ein Kaninchen auf, dann eine Katze. Einmal erschien er mit einem alten, vermoderten Schuh in der Schnauze.
"Also, Kommissar Rex ist er nicht", bemerkte Anna, was alle zum Lachen brachte, obwohl ihnen nicht danach zu Mute war.
Sie hatten inzwischen ihre Suche bis zum Wald ausgedehnt. Ab und zu blieb Günther Ravens stehen und telefonierte mit seiner Frau, die in Charlottes Obhut zurückgeblieben war. "Wenn wir Laura nicht bald finden, dreht meine Frau noch durch", sagte er zu Dr. Marquard.
"Schade, dass sich Ihre Frau nicht schon vorher solche Sorgen um Laura gemacht hat", bemerkte Jannic sarkastisch.
"Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, sich zu streiten", sagte Julian rasch, um Günther Ravens daran zu hindern, den jungen Mann zu packen.
Amos streifte umher. Es war das erste Mal, dass er im Wald nicht angeleint worden war. Mal lief er hier lang, dann wieder in die andere Richtung. Man konnte wirklich nicht behaupten, dass er nach Laura suchte. Bei seinen Streifzügen stand er plötzlich vor einem alten Schuppen, der von den Waldarbeitern benutzt wurde. Schnüffelnd rannte er um das dunkle Gebäude herum und stieß auf einen Körper, der halb über einem Baumstamm lag. Er stupste den Körper mit der Schnauze an. "Wuff!", machte er. "Wuff!" Als sich der Körper nicht regte, begann er laut zu bellen.
Jannic, der fünfzig Meter entfernt gesucht hatte, drehte sich a brupt um. "Amos hat was gefunden!", rief er den anderen zu, die ebenfalls in Amos' Richtung liefen.
"Hoffentlich ist es nicht der zweite Schuh", sagte Anna. Sie ließ den Kegel ihrer Taschenlampe über das Laub wandern.
Jannic rannte um die Hütte herum. Das Licht seiner Taschenlampe erfasste Amos und Laura. Er ließ die Taschenlampe fallen und warf sich neben Laura in das nasse Laub. Im erst Moment glaubte er, dass sie nicht mehr lebte, doch als er seine Hand auf ihren Hals legte, spürte er ihren Puls. Impulsiv zog er sie an sich.
"Herr Eckstein, bitte." Dr. Marquard kniete sich neben den jungen Mann. Behutsam nahm er ihm Laura aus den Armen und legte sie wieder auf den Waldboden.
"Was ist mit meiner Tochter?", fragte Günther Ravens zaghaft. Er fühlte eine ungeheure Erleichterung in sich. Auch wenn er nach wie vor jegliche Schuld bestritt, er wusste genau, dass sein Verhalten
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