Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
stimmte Anni Bruhnke immer das gleiche Lied an. Es hieß »Das Gotteshaus ist unsre Lust und wird es immer mehr«. Sie konnte offenbar nur diese eine Zeile und beendete sie dann stets mit der angehängten langgezogenen Frage an ihren Mann: »Nich, Ottchen?« Ottchen war weniger fromm und brummte: »Ja, ja.«
So friedlich wie im Wohnzimmer von Anni und Otto Bruhnke ging es damals in ganz Berlin zu. Es gab noch kein Ausländerproblem und keinen Thilo Sarrazin, und von den Studentenunruhen der folgenden Jahre waren allenfalls ganz leise Vorzeichen zu spüren. Als der Rektor der Freien Universität im Sommersemester 1965 gegen den linken Publizisten Erich Kuby ein Redeverbot verhängte, führte das zu ersten Protesten. Ich muss gestehen, mich hat das weniger interessiert, ich fuhr lieber mit meinem alten Käfer, den ich mir in Ferienarbeit als Nachtwächter bei den Lindauer Dornierwerken verdient hatte (Jahrgang 1958, schwarz mit einem grünen Kotflügel), über die Heinrich-Heine-Straße nach Ostberlin. Dort ging man in Brechts Theater am Schiffbauerdamm und aß vorher im Ganymed für 2,50 Mark ein komplettes Menü. Auch Bücher gab esim Sozialismus extrem günstig, und den viel gescholtenen Ostkaffee mochte ich besonders gern. Unserer war mir immer zu stark und zu bitter. Um die Idylle voll zu machen: Das Mädchen aus Kreuzberg, das mir damals nahestand, schickt mir noch heute jedes Jahr zum Geburtstag einen Blumenstrauß. Tut mir leid, genau so war es. Aber die Idylle sollte bald jäh zu Ende gehen.
Die Aufbaujahre der Bundesrepublik, die als »Wirtschaftswunder« in die jüngere deutsche Geschichte eingingen, neigten sich dem Ende zu. Es war eine Zeit gemeinsamer, überwiegend positiv empfundener Erfahrungen, die den Deutschen nach dem Krieg und den Existenzsorgen der unmittelbaren Nachkriegszeit zu einem neuen Selbstwertgefühl verholfen hatten. Man war wieder jemand, und man hatte etwas. Diese etwas saturierte Behäbigkeit unserer Eltern, die unangenehme Fragen kollektiv verdrängte, wurde von einer neuen Generation radikal in Frage gestellt. Was in Berlin in Ansätzen zu spüren war, sollte bald zu der großen Mentalitätswende führen, die als »Achtundsechziger-Bewegung« Schlagzeilen machte.
Ich war nach meinem Berliner Jahr wieder nach München zurückgegangen. Dort wohnte ich jetzt zusammen mit den zwei ehemaligen Lindauer Klassenkameraden
Wolfgang Unglaub und Franz Josef Schmid in der Römerstraße. Wieder bei einer Witwe, die gleich drei Zimmer ihrer großen Wohnung an Studenten vermietet
hatte. Franz Josef Schmid nahm mich mit in einen studentischen Boxclub. Ich wusste damals noch nicht, dass ich in der ARD später einmal fürs Boxen
zuständig sein würde, habe die Sache aber mit einigem Ernst betrieben. Gelegentlich erzähle ich heute, dass ich in meinem Jahrgang einmal Münchner
Studentenmeister geworden sei. Das klingt aber nur so eindrucksvoll, wenn ich weglasse, dass wir insgesamtlediglich zu dritt waren und dass einer davon
einen leichten Gehfehler hatte. Aber den anderen habe ich besiegt. Kleiner Einschub: In der ARD gab und gibt es eine starke Opposition gegen das Boxen. Die Argumente sind unterschiedlich. Dass Boxen gefährlich sei, ist zwar richtig, aber das sind Autorennen und Skiabfahrten auch. Schwerer zu kontern sind Einwände aus dem Bereich des Allgemeinmenschlichen nach dem Motto: »Man schlägt sich doch nicht ins Gesicht«. Ich habe in den Diskussionen als »Box-Intendant« dann immer Hemingway zitiert, Boxen sei eine Metapher für das Leben. Aber richtig überzeugt habe ich die guten ARD-Menschen damit nicht. Auch der Hinweis auf das extrem günstige Preis-Quoten-Verhältnis und das starke Interesse der umworbenen jüngeren Jahrgänge half nicht wirklich. Ich vermute stark, dass die Zeit öffentlich-rechtlicher Boxübertragungen vor dem K. o. steht.
Vom Boxen abgesehen, dümpelte mein Studium vor sich hin. Ich hatte an meinem alten Gymnasium in Lindau ein Praktikum als Lehramtsanwärter gemacht. An die Geschichtsstunde, die ich damals halten musste, kann ich mich noch erinnern. Es ging um das »Statutum in favorem principum« und die »Confoederatio cum principibus ecclesiasticis«. Die Begeisterung meiner Schüler über diese an sich ja wichtigen Verträge des Staufer-Kaisers Friedrich II. mit den weltlichen und kirchlichen Fürsten in Deutschland hielt sich in Grenzen, und der Lehrerberuf ist mir durch diesen Ausflug in die aktive Pädagogik nicht verlockender geworden.
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