Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Dazu kam, dass mein Vater, der Flugzeugmechanikermeister, gern von seinen Erlebnissen mit den Dornier-Testpiloten erzählte und dann etwas spöttisch fragte, ob das »Gedichtelesen« wirklich ein Männerberuf sei. Dass sein Sohn Germanistik studierte, war ihm von Anfang an suspekt gewesen. Ingenieur oder Arzt odersonst was Handfestes, ja, aber Germanist, was war denn das? Wahrscheinlich hat diese väterliche Verachtung neben meinen eigenen schulischen Erfahrungen dazu geführt, dass ich mich im Sommer 1966 bei der Lufthansa erkundigte, wie man Pilot werden könnte. Ich wurde daraufhin für November zu einer Aufnahmeprüfung nach Hamburg eingeladen. Ohne ein Wort zu meinem Vater zu sagen, bin ich hingefahren. Es war die härteste Prüfung, die ich in meinem Leben gemacht habe. Sie umfasste Sport und logisches Denken, Seh-, Hör- und Gedächtnistests, Englisch, Mathematik und Geschicklichkeitsübungen in einem Flugsimulator und in einer Unterdruckkammer und was weiß ich was noch alles. Beginn war Montag früh, da waren wir vierzehn. Ende Freitag Abend, da waren wir noch zwei. Dass ich einer davon war, hat mir enorm den Kamm schwellen lassen. Und mein Vater war, glaube ich, das erste Mal wirklich stolz auf mich. Ein paar Tage später erhielt ich die offizielle Einladung in die Lufthansa Flugschule nach Bremen. Im Februar sollte die zweijährige Ausbildung beginnen, sechs Monate davon in Phoenix/ Arizona. Ich war extrem guter Laune und stellte meine Universitätsbesuche umgehend ein. Vom Onkel Hans in Pfaffenhofen, bei dem ich als Student öfters ein nettes Wochenende verbracht hatte, wollte ich mich persönlich verabschieden. Und zwar am Nikolaustag 1966. Es war der Tag mit dem Blitzeis.
Nie wieder laufen
Man war am Klinikum rechts der Isar in München nicht auf die Behandlung Querschnittgelähmter eingerichtet. Ich wurde in ein kleines Einzelzimmer gesteckt und weitgehend unbehandelt liegen gelassen. Nach dem damaligen Kenntnisstand würde sich das Problem in den nächstenWochen von selbst erledigen. Ich selber hatte keine Ahnung, was mit mir los war, und war der festen Überzeugung, dass sich das mit den leblosen Beinen und dem gefühllosen Unterleib schon wieder regeln würde. Man brauchte jetzt halt etwas Geduld. Dass sich auf meiner Rückseite allmählich ein riesiges offenes Druckgeschwür bildete, spürte ich nicht. Es roch zwar manchmal etwas eigenartig unter der Bettdecke, aber das konnte ja alles Mögliche sein.
Mein Überleben verdanke ich einem jungen Stationsarzt. Er nahm meinen Vater zur Seite und sagte ihm: »Nehmen Sie den Bub hier raus. Der muss dringend in ein Querschnittzentrum, sonst stirbt er!« Mein Vater hat sich dann durchgefragt und stieß auf Rita, eine hübsche junge Krankenschwester, die mir auf der Intensivstation, in die ich anfangs eingeliefert worden war, einige Male tief in die Augen geschaut hatte. Sie gab meinem Vater die Telefonnummer des Ludwig-Guttmann-Hauses der Universitätsklinik Heidelberg. Das war damals das modernste Querschnittzentrum in Deutschland.
Offenbar war es gar nicht so einfach, mich aus der Münchner Klinik herauszubringen. Man wollte das Malheur mit dem Druckgeschwür, das eindeutig ein medizinischer Kunstfehler war, wohl nicht so gern nach außen dringen lassen. Mein Vater blieb hartnäckig, und eines Tages im Februar 1967 war es so weit. Ein Rettungshubschrauber des Roten Kreuzes landete auf dem Dach und brachte mich nach Heidelberg. Schwester Rita hatte mich nach ihrem Feierabend auf der Intensivstation gelegentlich in meiner Kammer auf Station 3 besucht. Sie mochte mich, und als ich nach Heidelberg verlegt wurde, kündigte sie in München und kam mit.
Ludwig Guttmann war in den dreißiger Jahren Chefarzt in Breslau. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialistenemigrierte er nach Großbritannien. 1944 erhielt er von der britischen Regierung den Auftrag, das »National Spinal Injuries Centre« im Stoke Mandeville Hospital in Aylesbury aufzubauen. Dort entwickelte er die modernen, bis heute gültigen Methoden zur Behandlung von Querschnittlähmungen. Das Vermeiden von Druckgeschwüren durch häufiges Umlagern, das Verhindern von Blaseninfektionen durch regelmäßiges Entleeren, die Stabilisierung des Kreislaufs durch spezielle Übungen, das waren Behandlungselemente, die den vorher üblichen schnellen Tod von Querschnittpatienten hinauszögerten. Es hat Professor Guttmann den Ehrentitel »Vater der Querschnittgelähmten« eingebracht. Nach ihm war
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