Gestern fängt das Leben an
trällerte Josie aus dem Flur herein, weil sie uns gehört hatte.
Ich war so voller Erwartungen, dass ich uns fast die Reise verdorben hätte. Jedes Restaurant und jede Sehenswürdigkeit war eine potenzielle Kulisse für den höchsten Beweis seiner Liebe. Aber nichts passierte. Im Nachhinein betrachtet, ist mir natürlich klar, dass Henry längst wusste, dass ich mir die Pariser Verlobung bereits bis ins
kleinste Detail ausgemalt hatte und es unmöglich sein würde, meine Vorstellungen zu übertreffen. So gut kannte er mich damals schon.
Auf dem Rückflug saß ich grollend und übelgelaunt in meinem Sitz und dachte mir Ausreden für Gene und Josie und die gesamte Mannschaft in der Agentur aus. Sie hatten bereits Wetten darauf abgeschlossen, wie Henry mir in der Stadt der Liebe wohl den Antrag machen würde.
Auf einmal deutete Henry zum Fenster hinaus in die Dunkelheit und sagte: «Ich weiß, dass man von hier aus den Mond nicht sehen kann, aber mir kommt es trotzdem so vor.»
«Ich fürchte, ich kann dir nicht ganz folgen» , gab ich zurück.
«Ich will damit sagen» , flüsterte er, «egal, wo wir sind, es ist, als wäre ich mit dem Leuchten von Mond und Sternen gesegnet, weil ich mit dir zusammen bin.» Er wurde rot. «Ich weiß, es ist albern und es klingt wie eine Kitschgrußkarte, aber es ist wahr.»
«Danke» , sagte ich, hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und tastete unter unseren Decken nach seiner Hand. Ein intimeres Bekenntnis hatte er bis dahin nie gemacht.
«Also ist dies, du mein Mond, meine Sterne, die einzige Art, wie ich dir für deine Liebe danken kann.» Er schob mir eine samtige Schachtel in die Hand und als ich sie öffnete, lag er vor mir: der Ring, der Garant dafür, dass wir glücklich leben würden bis an unser selig Ende.
Die Flugbegleiterin brachte Champagner, und ich schob die Armlehne zwischen unseren Sitzen nach oben und
schmiegte mich so nah an ihn, dass uns nicht der kleinste Spalt mehr trennte.
Ich war in dem Moment so durchdrungen von Zufriedenheit, dass ich das Gefühl hätte einstecken mögen, um die nächsten Jahre darauf zu segeln.
9
Ich starre zum Bürofenster hinaus und betrachte die Aussicht, aber eigentlich sehe ich nur die Bilder von Henry und mir und von meinem früheren Leben. Ich versuche, sie abzuschütteln, aber sie krallen sich fest. Vor drei Stunden hat Henry mir im Bus, ohne es zu wissen, in die Augen gesehen und mich damit unweigerlich auf den Pfad der Erinnerungen gestoßen.
«Tut mir leid, wenn ich störe.» Gene klopft leise an die Tür und tritt ein. «Die Post ist da.»
«Danke», sage ich abwesend, schwinge mich in dem Drehstuhl herum und nehme den Stapel entgegen.
«Schlechter Tag?», fragt er.
«Ach, es ist nichts», antworte ich ihm und stehe auf, um die Jalousien zu schließen.
Ich mag Gene. Ich mochte ihn schon beim letzten Mal, und diesmal mag ich ihn wieder. Er ist ein fünfundzwanzigjähriger Highschool-Absolvent und war der beste Graphiker seiner Abschlussklasse. Doch er musste feststellen, dass diese Auszeichnung noch lange nicht bedeutet, dass einem nach der Schule die Kunstwelt zu Füßen liegt. Und jetzt, nachdem er sechs Jahre in einer Cafébar im West Village gejobbt hat, arbeitet er tagsüber bei uns und geht abends aufs College. Ab und zu bitte ich ihn, einen prüfenden Blick auf meine Storyboards zu werfen. Meist hat er kleine Verbesserungsvorschläge parat oder fügt ein Detail hinzu, das ich übersehen hätte. Ich habe mich bei den feinen Detailsnoch nie besonders hervorgetan, zumindest nicht, ehe ich mich in die perfekte Superhausfrau und Mutter verwandelt habe.
«Bitte nimm es mir nicht übel, aber du hast schon mal besser ausgesehen.»
«Vielen Dank, Gene.» Ich lächle ihn an. «Ich liebe zweifelhafte Komplimente.»
«Gibt es Probleme mit der Coke-Kampagne?» Er setzt sich, obwohl ich ihn nicht dazu aufgefordert habe.
«Nein, ganz und gar keine Probleme mit der Coke-Kampagne.»
«Ja, nach allem, was man hört, gibst du ganz schön Gas.» Er stützt seine Ellbogen auf dem Tisch ab und legt das Kinn auf die gefalteten Hände.
«So? Hört man das? Was hört man denn sonst noch so? Raus damit.»
«Weißt du, vor uns Praktikanten reden die Leute immer ziemlich ungehemmt, weil sie denken, wir hätten keine Ohren. Oder existieren gar nicht. Oder was auch immer.» Er zuckt die Achseln und kratzt sich an dem Piercing, das seinen linken Nasenflügel ziert. «Jedenfalls macht auf den Fluren das Gerücht die Runde, sie
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