Gestern fängt das Leben an
höre Musik, die mich an frühere Zeiten erinnert – nur dass dieses Früher Jetzt ist. Manchmal kam in meinem zukünftigenLeben «If You’re Gone» von Matchbox Twenty im Radio, wenn ich gerade mit dem Range Rover unterwegs war. Dann starrte ich zum Fenster hinaus, sah die grauen Fassaden vorbeigleiten und wurde an Jack erinnert. Und daran, wie ich mir das Lied nach unserer Trennung wieder und wieder angehört habe. Aber jetzt ist es nichts weiter als ein Song, der die Erinnerung an etwas wachruft, das noch nicht geschehen ist, das vielleicht
niemals geschehen wird,
wenn es mir diesmal gelingt, mein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Ich höre also gerade Matchbox Twenty und grüble über mein Leben nach, als der Bus an der 28. Straße die Türen öffnet, und ein ganzer Schwung Fahrgäste nach vorne drängt. Schwitzige Körper verstopfen jetzt den Gang, und Geruchsschwaden ziehen vorbei, eine Mischung aus Rasierwasser, Kaffee und Körperausdünstungen. Ich rutsche zur Seite, um den Leuten Platz zu machen. Eine korpulente Frau mit Schweißflecken auf dem T-Shirt rammt mir den Ellbogen gegen den Kopf und starrt mich böse an, als ich mich nicht entschuldige.
Ich sehe ihr nach, wie sie sich an mir vorbeischiebt, wende den Blick dann wieder nach vorn und wappne mich innerlich gegen den Ruck, als der Bus erneut anfährt. Vor mir wippen unzählige Köpfe im rüttelnden Rhythmus des fahrenden Busses. Ich erblicke den strenggeflochtenen Zopf eines Mädchens, das kaum älter als fünf sein kann, und verdränge die Gedanken an die unzähligen Vormittage, die ich auf dem Fußboden von Katies Zimmer damit verbracht habe, ihr die widerspenstigen Haare zu flechten. Plötzlich spüre ich einen fremden Blick auf mir, durchdringend wie ein Röntgenstrahl.
Henry,
denke ich.
Da ist Henry.
Gerade als die Schockwelle des Wiedererkennens mich durchfährt, kommt der Bus abrupt zum Stillstand, und die Menge verliert geschlossen das Gleichgewicht. Mit einem Quietschen öffnen sich die Türen, und so schnell, wie die Menschenwelle sich eben noch nach vorne geschoben hat, verebbt sie jetzt wieder. Auch Henry verlässt den Bus, und obwohl das hier überhaupt nicht meine Haltestelle ist, stehe ich eilig auf und lasse mich von der Menge mitschwemmen. Ich werde die drei Stufen hinuntergespült und vor den Bus befördert, ehe ich überhaupt realisiert habe, dass ich mich aus eigener Kraft bewege. Suchend drehe ich mich um, erst verblüfft, dann hektischer und zunehmend verzweifelt. Einen halben Block weiter fällt mir das himmelblaue Hemd wieder ins Auge und die Haare in der Farbe von nassem Sand. Ich kämpfe mich durch die Fußgänger, in dem Versuch, ihn noch rechtzeitig zu erreichen.
Als ich endlich an der nächsten Ecke angekommen bin, außer Atem, ängstlich und aufgeregt zugleich, ist er verschwunden. Ich drehe mich um die eigene Achse, und dann nochmal. Ich starre die Straße hinauf und die Querstraßen hinunter, aber er ist nirgends zu sehen. Zögernd mache ich mich auf den Weg in mein Büro.
Waren wir schon mal an diesem Punkt?,
frage ich mich.
Hatte uns auch beim letzten Mal ein Wasserrohrbruch beide in denselben Bus gespült, ehe uns die Pendlerflut wieder aus
einandertrieb
? Waren wir dafür bestimmt, uns zu begegnen, unabhängig von der neuen Karte, der ich diesmal folgen wollte?
Der nächste Bus rattert an mir vorbei und lässt eine heißeAbgaswolke hinter sich. Mit schweren Füßen und rasendem Herzen drehe ich mich ein letztes Mal um, obwohl ich weiß, dass es nichts mehr zu sehen gibt.
Henry,
sage ich ein letztes Mal zu mir selbst,
das war Henry
.
Dann wird mir klar, dass es nicht sehr viel Sinn hat, seinen Namen überhaupt auszusprechen, wenn er nicht mein Schicksal ist. Ich verdränge ihn aus meinen Gedanken und beobachte, wie die Busse die Madison Avenue entlangfahren und am Horizont verschwinden, als hätte es sie nie gegeben.
HENRY
Fast ein Jahr nachdem wir uns kennengelernt hatten, machte Henry mir einen Antrag. Und wie fast alles Andere an ihm, war auch sein Antrag perfekt. Geplant, aber nicht gehetzt, rührend, aber nicht rührselig. Unerwartet, und doch keine Überraschung. Perfekt.
Wir machten Urlaub in Paris, und alle – Megan, Ainsley, Josie und selbst Gene – waren überzeugt, dass er mich dort fragen würde. «Direkt unter dem Eiffelturm» , meinte Gene, als wir uns irgendwann mittags an meinem Schreibtisch Putensandwichs teilten. «Oder bei Sonnenuntergang auf der Seine» ,
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