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Gestern fängt das Leben an

Gestern fängt das Leben an

Titel: Gestern fängt das Leben an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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weißt, dass ich dich als meinen Assistenten vorgeschlagen habe. Ich warte eigentlich jeden Tag darauf, dass die Stelle endlich genehmigt wird.»
    «Dein Wort in Gottes Ohr», flötet er und ist schon halb den Flur hinunter. «Viel Spaß mit der Post.»
    Ich lache leise und greife nach den Sendungen, die er auf einen bereits existierenden Stapel Post gelegt hat. Drei Umschläge rutschen dabei herunter und segeln vom Tisch. Um Haaresbreite verfehlen sie den Papierkorb und landen auf dem blauen Teppich. Ich bücke mich danach und beschließe, die Briefe endlich zu öffnen.
    Im ersten Umschlag steckt ein Heftchen mit Rabattmarken für einen Bürogroßhandel, im zweiten befindet sich meine Handyrechnung. Der dritte Umschlag ist cremefarben und mit einer Elvis-Briefmarke verziert. Ich habe ein Déjà-vu, und dieses komische Gefühl steigt wieder in mirhoch, das Gefühl, diesen Umschlag schon mal in Händen gehalten zu haben.
    Als ich den Brief umdrehe, um ihn zu öffnen, durchfährt mich ein Riesenschreck. Auf dem linierten Bogen Papier erkenne ich die Handschrift meiner Mutter. Ihre Worte sind mir auf unheimliche Weise vertraut: Ich kann mich dunkel an sie erinnern, aber bewusst abgespeichert habe ich sie nie. Vor Jahren, als ich diesen Brief zum ersten Mal las, war ich aus dem Büro geflohen, um nach Luft zu schnappen. Ich hatte das mit Monogramm verzierte Briefpapier zerknüllt und auf der Seventh Avenue in den nächstbesten Abfalleimer gepfeffert. Ich war außer mir vor Wut und habe mir geschworen, weder die Worte selbst noch ihre Bedeutung je wieder in mein Bewusstsein zu lassen.
    Heute gestatte ich mir, den Brief ein zweites Mal zu lesen. Ich weiß, ich werde mich dafür hassen, aber ich weiß auch, dass ich es für immer bedauern werde, wenn ich es jetzt nicht tue. Auf meiner Stirn bilden sich riesige Schweißperlen, als ich den Bogen auseinanderfalte. Ihre Handschrift ist akkurat geschwungen wie bei einer Grundschullehrerin und absolut makellos, als könnte die Schreibkunst über den Charakter der Verfasserin Zeugnis ablegen.
     
    Liebe Jillian,
    ich hoffe, dieser Brief findet seinen Weg zu dir. Ich trage ihn schon viele Jahre bei mir, auf der Suche nach dem richtigen Zeitpunkt, ihn dir zu schicken, und ließ es schließlich doch jedes Mal bleiben. Aber jetzt habe ich das Gefühl, die Zeit ist gekommen. Und so hoffe ich, er findet zu dir und mehr noch: Ich hoffe, dass du diese Einmischung zulässt.
    Mir ist klar, dass beinahe achtzehn Jahre vergangen sind und dass ich deinen Vater, deinen Bruder und dich ohne ein Wort der Erklärung verlassen habe. Und ich bin mir darüber bewusst, wie fürchterlich unfair es gewesen ist – das ist mir heute so klar wie nie.
    Ich möchte es dir gerne erklären. Ich würde gerne meine Seite der Geschichte erzählen, auch wenn ich weiß, dass dies sehr viel verlangt ist von einer Tochter, die den Großteil ihres Lebens ohne ihre Mutter gewesen ist.
    Doch ich schreibe dir trotzdem, um dich um Folgendes zu bitten: Ist es dir eventuell möglich, dich mit mir zu treffen, um dir – vielleicht – meine Entschuldigung anzuhören? Denn ich möchte mich bei dir entschuldigen. Und vor allem möchte ich dich gerne kennenlernen!
    Ruf mich doch bitte an: 212   -   525   -   3418.
     
    Mit all meiner Liebe,
    deine Mutter Ilene
     
    Ich lese den Brief noch dreimal. Und jedes Mal kommt beim Lesen ein anderes Detail der Situation zurück, als ich ihn zum ersten Mal in Händen hielt – damals vor sieben Jahren. Wie ich bei meinem Vater anrief und Zeugin des fürchterlichen Schocks wurde, der einen Mann mit gebrochenem Herzen befällt, dessen Schreckgespenst zurückgekommen ist, um ihn zu jagen. Wie ich versucht habe, meinen Bruder ausfindig zu machen, der gerade den hintersten Winkel Asiens durchstreifte, um ihm zu erzählen, unsere Mutter wäre aus der Versenkung aufgetaucht. Wie ich die brodelnde Wut zu bändigen versuchte, die diese dreiste Frau in mir losgetreten hatte.
    Mit einem Ruck schiebe ich den Stuhl zurück und springe auf, um aus dem Büro zu fliehen. Um auf der Seventh Avenue zornige Kreise zu ziehen, wie beim letzten Mal, bis ich mich wieder im Griff habe, wieder bei Verstand bin. Aber dieser Zustand würde so flüchtig sein, dass ich mehr als ein halbes Jahrzehnt lang voller Wut bleiben würde wegen des Handelns meiner Mutter. Ich würde ihren Brief so lange zwischen meinen Händen zerknüllen, bis er sich als Wurfgeschoss eignete und ich ihn dann mit großer Kraft in den

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