Gestern fängt das Leben an
«Das hat mir gerade noch gefehlt.»
«Geht’s dir nicht gut?», frage ich, weil Josie ein Problem wie dieses normalerweise nicht als die Megakrise betrachtet, die sie gerade daraus macht.
«Nein, nein.» Sie winkt ab. «Hör zu. Ich bin sämtliche Fotos durchgegangen, aber so richtig ins Auge sticht mir eigentlich keines von denen. Bitte wirf du doch noch einmaleinen Blick darauf. Vielleicht entdeckst du ja den nächsten großen Star.»
In ihrer Stimme schwingt ungewohnter Sarkasmus mit. Ob das, was wir machen, nun große Kunst ist oder nicht, Josie ist von uns allen immer am allermeisten davon überzeugt, dass wir eine wichtige Arbeit machen. Ob die Stunden, die wir in unseren luftlosen Löchern verbringen, nun das Konsumverhalten der Menschen und damit den Markt beeinflussen, oder wir einfach unsere Kunden zufriedenstellen. Jeder Punkt ist gleich wichtig.
«Kein Problem», erwidere ich perplex. «Es kann ja wohl nicht so schwer sein, ein niedliches Kind zu finden.»
«Mmh, schwerer als du denkst», sagt sie. «Ich war das ganze Wochenende hier, habe in Bergen von Bildern gewühlt und Bart ständig neue Vorschläge geschickt, aber er war mit keinem davon zufrieden.»
«Bart?», frage ich.
«Da läuft nichts», wirft sie mit derartigem Nachdruck schnell ein, dass es entweder stimmt oder sie so sehr deprimiert, dass ich nicht weiter darauf herumreite. «Das Shooting ist für übermorgen angesetzt, und bis dahin müssen wir jemanden gefunden haben, mit dem sie einverstanden sind. Wir müssen das Kind ausstatten, es mit der Story vertraut machen, Testfotos machen …» Sie seufzt. «Wie dem auch sei. Bitte sieh die Bilder nochmal durch, ob dir nicht irgendwer ins Auge sticht.»
«Ja, natürlich», sage ich.
«Gut.» Josies Antwort klingt mechanisch, und sie wendet sich schon wieder zur Tür.
Ich schüttle den Kopf, ziehe den Stuhl an den Schreibtisch und mache mich über den Stapel Fotos her.
Die Kinder unterscheiden sich zwar in Hautfarbe und Frisur, in Größe und in Gewicht, aber sie sehen trotzdem alle gleich aus: ein gefrorenes Lächeln und viel zu viel Ehrgeiz im Blick, dazu ein plastikhafter Gesichtsausdruck, der mich nicht eben in Verzückung versetzt, und – viel wichtiger – ganz sicher auch den Kunden kaum in Verzückung versetzen wird. Mir ist klar, warum Bart unbeeindruckt blieb.
Ich brüte gerade über einem süßen, wenn auch absolut durchschnittlichen Gesicht eines sechsjährigen, schwarzen Mädchens, als Gene mit einer riesigen Vase voller Blumen durch die Tür wankt. Der Strauß ist groß genug, um es mit einem Busch aufzunehmen.
«Mach mal schnell Platz da», stöhnt er verzweifelt. «Nimm den ganzen Müll vom Tisch, ehe ich alles fallen lasse.»
Ich schiebe einen Stapel Post beiseite, und er knallt die riesige Vase mit einem dumpfen Schlag auf den Tisch, dass die Blumen zittern.
«Wow! Das nenne ich einen verliebten Verehrer!», sagt er und macht einen Schritt zurück, um den floralen Dschungel zu bewundern.
Ich schnappe mir die Karte, die in einer orangefarbenen Lilie steckt, und ziehe den Umschlag hervor.
Hallo, Jill,
ich bin so stolz auf dich und deinen neuen Job, und es tut mir leid, dass ich in letzter Zeit so unaufmerksam gewesen bin. Gehst du heute Abend mit mir essen, in «unserem Laden»?
Ich liebe dich! Jack
Mein Gesicht weitet sich zu einem strahlenden Lächeln, und ich schüttle fassungslos den Kopf.
Nach der Begegnung mit Henry bei Starbucks hatte ich Jack zwei Nachrichten auf seine Mailbox gesprochen. Die erste, um ihm von meiner Beförderung zu erzählen, und die zweite dann – alarmiert von der Tatsache, dass mir Henry beharrlich im Kopf herumspukte –, um ihm zu sagen, wie sehr ich ihn vermisste und wie sehr ich mir wünschte, er würde schon am Abend nach Hause kommen. Zu dem Zeitpunkt war die Sonne schon lange untergegangen, und als mir vor Müdigkeit irgendwann die Augen zufielen, wusste ich, dass die Chancen auf eine frühe Rückkehr mehr als schlecht standen. Um Mitternacht hatte er immer noch nicht zurückgerufen.
Und jetzt das! Noch dazu an einem Montag! Ich weiß, dass der Montagvormittag für Jack immer besonders hektisch ist: Redaktionssitzungen, Abgabefristen und die fadenscheinigen Ausreden freier Autoren. Dass trotz des ganzen Trubels diese üppige Blumenpracht auf meinem Schreibtisch gelandet ist, beeindruckt mich schwer.
«Also für mich sieht es so aus, als wäre die Krise beendet», sagt Gene, geblendet von meinem
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