Gestern fängt das Leben an
von sich preisgibt?
Aber das hier ist ja gar kein Date!, widerspreche ich mir stumm und ärgere mich darüber, dass ich so was überhaupt in Erwägung ziehe. Ich trinke schnell einen Schluck Tee und hoffe, dass Henry nichts gemerkt hat. Verstohlen wische ich mir mit dem Handrücken einen winzigen Tropfen aus dem Mundwinkel.
Statt sich von meinem intimen Bekenntnis oder meinen unangemessenen Tischmanieren abgestoßen zu fühlen, sieht Henry mich mitfühlend an.
«Das tut mir leid», sagt er. «Das stelle ich mir beängstigend vor.»
Am liebsten würde ich quer über das dunkelrote Plüschsofa springen und ihn umarmen. Er hat sofort verstanden, worum es geht. Und bis jetzt ist noch niemand, weder Jack noch Megan noch mein Vater, ja nicht mal ich selbst darauf gekommen, was in Wirklichkeit an dieser Tortur das Schlimmste ist: Die Rückkehr meiner Mutter in mein Leben ist nicht nur nervenaufreibend oder erschütternd, sondern erfüllt mich mit einer derart schrecklichen Angst, wie ich sie noch niemals erlebt habe. Angst, es könnte schlimmer sein, die wahren Gründe dafür zu erfahren, weshalb sie uns verlassen hat, als noch länger im Zweifel darüber zu bleiben. Denn jetzt, wo sich endlich die Gelegenheit auftut, dieser Wahrheit auf den Grund zu gehen, ist die Angst davor beinahe lähmend.
Und so sprudelt plötzlich die Geschichte über meine Mutter aus mir heraus. Ich erzähle, wie sie uns an einem kühlen Herbstmorgen verlassen hat. Wie sie jetzt genauso unerwartet auf einmal wieder aufgetaucht ist. Und wie ich mich dabei fühle – wie eine Infanterieeinheit, die ohne Vorwarnung unter tödlichen Raketenbeschuss gerät. Die Worteströmen nur so aus mir heraus. Sie purzeln übereinander, und als ich fertig bin, fühle ich mich wie geläutert. Ich sitze bei Starbucks auf der Couch und versuche, mich daran zu erinnern, ob es jemals, in diesem Leben oder meinem letzten, jemanden gegeben hat, der mir so sehr das Gefühl gab, neu geboren zu sein.
Wie aufs Stichwort hört es draußen auf zu donnern. Der prasselnde Regen reduziert sich zu einem leichten Tröpfeln, und mir fällt mit Schrecken wieder ein, wie gefährlich es sein kann, hier mit Henry zu sitzen und mein Innerstes nach außen zu kehren.
«Ich muss jetzt los», sage ich kurz entschlossen und stehe auf.
«Oh, okay.» Enttäuschung macht sich auf seinem Gesicht breit. «Na dann …» Henry zögert. «Ich würde gerne wissen, wie die Sache weitergeht. Mit deiner Mutter, meine ich.»
«Ich habe einen Freund, Henry.»
«Ich weiß.» Er sagt es, ohne zu zögern und ohne eine Spur von Bedauern. «Es ist nur nicht oft so, dass ich jemanden kennenlerne, mit dem ich so gut reden kann. Und bei dir habe ich das Gefühl, als … ach, ich kann es nicht erklären.» Er klingt keine Spur verlegen.
Ich nicke, weil es mir genauso geht. «Freunde?», frage ich und halte ihm die Hand hin. «Wie wär’s, wenn wir uns darauf einigen, gute Freunde zu werden.»
«Freunde», wiederholt er und nimmt meine Hand.
Bei der Berührung durchfährt mich ein elektrischer Schlag, und ich hoffe, er merkt nicht, wie ich zusammenzucke. Eilig wende ich mich zum Gehen.
Gerade als ich die regennasse Glastür aufdrücke, ruft ermir nach: «Dann bis zum nächsten Mal! Ich erwische dich schon.»
«Ja, so wie du mir in letzter Zeit auf den Fersen bist», antworte ich, ehe mir klarwird, dass es wahrscheinlich besser wäre, mich Henry nicht als Beute zu präsentieren.
KATIE
Als ich im achten Monat war, wurde Henry in seiner Kanzlei zum «jüngsten Partner aller Zeiten» ernannt. Es war in der einunddreißigsten Woche, um genau zu sein. Ich kann mich so genau erinnern, weil ich am selben Tag die erste große Untersuchung hatte.
Henry kam mit einer Flasche Champagner nach Hause und überzeugte mich davon, dass ein paar Tröpfchen sicher keinen bleibenden Schaden anrichten würden. Ich war so dankbar für den wortwörtlichen Schluck vorschwangerschaftlichen Lebens, dass ich mir ein ganzes Glas genehmigte – obwohl ich danach ein derartig schlechtes Gewissen hatte, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte.
«Es wird sich nicht viel ändern» , versicherte Henry mir nach dem Sex (das dritte Mal erst, seit ich schwanger war). «Die neue Position bedeutet minimal mehr Arbeit für einen viel größeren Bonus!» Er streichelte meinen basketballgroßen Bauch. Ich nickte und schwelgte im postkoitalen Hormonrausch, der auch die frustrierteste Ehefrau davon überzeugen kann, dass
Weitere Kostenlose Bücher