Gestern fängt das Leben an
billigem Klopapier ab.
«Äh … Nein, danke», stottere ich. «Ich muss weiter.»
Das stimmt, du kannst nicht bleiben! Du hast einen Freund! Und obwohl der sich im Augenblick mehr zu seiner Mutter als zu dir hingezogen fühlt, bist du grundsätzlich noch immer glücklich mit ihm. Verbau dir also nicht die Chance, dein Leben neu zu gestalten. Bleib! Nicht! Hier!
Einige Tropfen lösen sich von meinen Haaren und fallen zu Boden. Mein Puls rast, und ich bin mir nicht sicher, ob das, was gerade über meinen Körper perlt, Regenwasser oder Schweiß ist.
«Du willst da raus?», fragt Henry. «Nur um von mir wegzukommen?»
Ich starre ihn ungehörig lange an, bis mir klarwird, dass er nicht etwa meine Gedanken lesen kann, sondern lediglich einen Scherz gemacht hat. Mehr noch, er versucht, mit mir zu flirten! Ich kann mich nicht erinnern, wann Henry das letzte Mal mit mir geflirtet hat.
«Nein, nein, überhaupt nicht», sage ich. «Aber ich … äh, ich habe einfach noch so viel zu tun.»
Just in diesem Moment zerreißt ein Donnerschlag die Luft, und ich schreie spitz auf: «Himmel nochmal!»
«Also, ich finde ja», sagt Henry, «dass du hier drinnen besser aufgehoben bist als da draußen.»
Er flirtet schon wieder!
Ich sehe ihm direkt in die Augen und habe das Gefühl, in eine von Katies Folgen der Sesamstraße geraten zu sein.Die, in der Bibo, dieser große gelbe Vogel, immer wieder gegen eine Wand rennt, weil er einfach nicht kapiert, dass er drüberklettern muss. Ich bin Bibo, umringt von Wänden.
«Na schön», gebe ich zögernd nach, ehe der nächste ohrenbetäubende Donner die Luft zerreißt. «Ich schätze, alles andere muss warten.»
Henry sieht mich auffordernd an. Doch bevor ich etwas bestellen kann, sagt er: «Nein, lass mich raten: Du bist ein Chai-Typ.»
Damit bringt er mich derart aus der Fassung, dass ich nicht mal mehr daran denken kann, wegzulaufen. Denn er hat recht. Ich liebe Chai-Getränke. Er hat den Nagel auf den Kopf getroffen, ohne auch nur das Geringste über mich zu wissen.
Nachdem Henry für uns Getränke bestellt hat, quetschen wir uns an einen Platz am Fenster. Ich lasse mich trotz nasser Hose auf ein rotes Sofa fallen. Henry faltet seine Ausgabe der
New York Times
zusammen und fährt mit dem Finger über die Falten, bis die Seiten perfekt übereinanderliegen. So hat er es in den letzten sieben Jahren unseres gemeinsamen Lebens jedes Wochenende getan. Dann streicht er sich mit den Händen durch die Haare, so wie immer, wenn er nervös ist.
Ich versuche, das Gefühl panikhafter Vertrautheit zu unterdrücken, das mich bei dem Anblick befällt. Das hier ist überhaupt keine gute Idee.
Bleib! Nicht! Hier!
«Also, Jillian, was weiß ich noch über dich?» Henry nippt an seinem Espresso. «Du machst Werbung für Coke. Du fährst meistens Bus. Du hast einen Freund, der heute noch nicht auf der Bildfläche erschienen ist. Und offensichtlichjoggst du gerne. Außerdem …» Er neigt den Kopf und zögert kurz. «Außerdem siehst du wunderbar aus, selbst wenn du an einen ersoffenen Pudel erinnerst.» Er lächelt triumphierend, und ich muss mir auf die Backe beißen, um es ihm nicht nachzutun.
«Stimmt alles», sage ich, füge dann aber noch hinzu: «Nur der Freund ist heute sehr wohl noch auf dem Radar.»
«Aha», sagt er. «Und was gibt es sonst noch über dich zu wissen?»
«Das war’s eigentlich schon. Das ist alles. Das ist die Zehn-Sekunden-Kurzfassung meines Lebens.» Ich muss plötzlich lachen, denn mir wird klar, dass es stimmt: Das Ich meiner Vergangenheit ist gar nicht so verschieden von dem Ich meiner Zukunft. Ich führe ein Leben mit einem recht langweiligen Muster. Falls nötig, könnte man es ordentlich verschnüren, unters Bett schieben und vollkommen vergessen, bis jemand beim Staubwischen aus Versehen darüber stolpert.
Henry sieht mich ernst an. «Das kann auf keinen Fall alles gewesen sein.»
«Es fühlt sich aber so an», sage ich achselzuckend. Dann fällt mir ein, wohin mein Lauf mich heute geführt hat. Und ehe ich mich eines Besseren besinnen kann, sage ich: «Allerdings wäre da noch die spannende Tatsache, dass meine Mutter abgehauen ist, als ich neun Jahre alt war, und jetzt plötzlich wieder Kontakt zu mir aufnehmen möchte.»
O Gott, was tue ich hier eigentlich? Meine Augen werden weit vor Schreck über dieses Geständnis, und ich würde es am liebsten zurücknehmen.
Wer bist du denn eigentlich? Eine Verrückte, die schon beim ersten Date alles
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