Gestern fängt das Leben an
Durcheinander von Memos und halbgegessenen Müsliriegeln ist einfach nichts zu finden. Ich ziehe die Nase kraus und atme bewusst aus, um meinen Kopf frei zu machen.
Eigentlich kann ich mich nicht erinnern, dass mir die Arbeit in meinem alten Leben je auf die Nerven gegangen wäre. Aber langsam fühle ich mich in meinem neuen Job erschöpft und genervt. Ich bin fast rund um die Uhr in der Agentur, beschäftigt mit Teamführung und damit, Josie Rechenschaft abzulegen. Jeder Augenblick, der sich nicht um meine Hochzeit dreht, dreht sich um Werbetexte, Storyboards und Bildbearbeitung und die Suche nach «kampagnentauglichen Models», wie es ein Vertreter von Coke neulich formuliert hat. Als gäbe es tatsächlich Menschen, denen das Zeug aus der Nase blubbert.
Ich weiß noch, dass es damals vor allem die Kollegen waren, die ich an meinem Job so geschätzt habe. Die Freude daran, gemeinsam eine neue Idee zu entwickeln, und diebesondere Stimmung, wenn wir mal wieder eine Nachtschicht einlegen mussten und sich alle gemeinsam in die Riemen legten wie eine olympische Rudermannschaft, um vor der Deadline die Ziellinie zu überqueren.
Allerdings frage ich mich an dieser Stelle, ob meine Erinnerung mich mal wieder trügt. Habe ich meine Vergangenheit in verklärtes Licht getaucht? Das ist schließlich viel leichter, als zuzugeben, dass auch die Vergangenheit kein fröhliches Barockgemälde war. Ich führte ein ganz normales Leben, nicht mehr und nicht weniger, weder glorreich noch schäbig. Die Arbeit war immer nur Arbeit, auch wenn ich sie gerne getan habe. Und als ich damals schwanger wurde und Henry mir vorschlug zu kündigen, bin ich über diese Chance vielleicht gar nicht so unglücklich gewesen. Oder?
Im Moment verschwimmen die Ränder meiner Erinnerung ständig. Ich bewege mich unaufhörlich zwischen Wirklichkeit und Einbildung, zwischen diesem Leben und dem anderen. Und ich ertappe mich oft bei dem Versuch, auseinanderzuhalten, was real war und was nicht, als hätte ich den Rest vielleicht nur geträumt.
Mit schmerzenden Schultern sitze ich über den Schreibtisch gekrümmt und konzentriere mich gerade auf den Unterschied zwischen einem tiefgrauen und einem tiefsilbergrauen Schriftbild, als Gene sich über die Gegensprechanlage meldet.
«Hier ist ziemlich niedlicher Besuch für dich», sagt er, und es klingt immer noch ein wenig beleidigt, weil ich ihn gestern Nacht gezwungen habe, bis halb zwölf zu bleiben.
«Jack», sage ich. «Schick ihn rein.» Ich lehne mich zurück und massiere einen schmerzenden Knoten an der Schulter.
«Nicht Jack», antwortet Gene. «Sicher nicht. Aber der Typ ist schon auf dem Weg.»
Ehe ich antworten kann, klopft es auch schon an meinem Türpfosten, und Henry streckt den Kopf herein.
Unwillkürlich weiche ich zurück wie die Maus vor der Falle. Selbst damals, in unseren Anfängen, hat Henry mich nie in der Agentur besucht. Damals hatte es auch keine Notwendigkeit gegeben, dass er bei mir im Büro vorbeikam. Ich war spätestens um neunzehn Uhr zu Hause, und er kam nie später als zwanzig Uhr. Das Gleichgewicht war, zumindest in den ersten Jahren, noch gegeben.
Ihn jetzt hier zu sehen, ist gleichzeitig verstörend und höchst willkommen.
«Hey!» Henry strahlt über das ganze Gesicht. Dieses einnehmende Lächeln hatte ich fast vergessen.
Wann hast du das verloren?,
denke ich.
Oder ist es mir einfach irgendwann nicht mehr aufgefallen? Oder hattest du mit mir irgendwann einfach nichts mehr zu lachen?
«Ich hatte hier im Gebäude einen Termin. Und da dachte ich, ich schau mal vorbei.» Unaufgefordert setzt er sich, das breite Grinsen immer noch im Gesicht, auf meinen Besucherstuhl.
«Klar, natürlich, ich kann etwas Ablenkung gut gebrauchen», antworte ich und deute auf die Stapel auf meinem Schreibtisch. «Äh … schön, dich zu sehen.» Mein Blutdruck schießt in ungeahnte Höhen.
«Ebenfalls. Wie geht’s der Couch?»
Spricht er jetzt von meinem Freund?
Ich sehe ihn stirnrunzelnd an. «Gut. Äh, sehr bequem. Und deiner?»
«Hm, na ja, also ich bin ja eigentlich gar nicht auf der Suche gewesen. Das war Celeste. Aber es hat nicht geklappt.»
Heißt das jetzt, sie haben sich getrennt?
«Schade», erkläre ich achselzuckend. «Die hatten nette Sofas.»
«Ja. Das stimmt», antwortet er und grinst.
Ist das ein Euphemismus für: Du willst mich?
Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. Dieser Geheimcode fängt langsam an, mich zu verwirren.
«Und? Wie stehen die Dinge mit
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