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Gestern fängt das Leben an

Gestern fängt das Leben an

Titel: Gestern fängt das Leben an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allison Winn Scotch
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hinuntergebrochen hast. Das muss dich viel Energie gekostet haben. Und mir hast du immer gesagt, ich soll aufhören, so irrational zu denken und mich «zusammenreißen». Also habe ich aufgehört, irrational zu sein und mich verdammt nochmal zusammengerissen. Aber ab dem Zeitpunkt haben wir aufgehört zu streiten und irgendwann überhaupt miteinander zu reden. Und deshalb bin ich schließlich verfluchte sieben Jahre früher in meiner Vergangenheit gelandet, nur um vor dem quälenden, erstickenden Schweigen zu fliehen, das sich eingestellt hatte.
    Mir ist ganz schwindelig von diesen vielen Gedanken. Doch ich sage nichts von alledem.
    «Weißt du, das ist genau der Punkt», gestehe ich stattdessen ein. «Ich will auf gar keinen Fall noch einmal von ihr verletzt werden. Und deshalb weiß ich nicht, wie ich mich jetzt auf eine Beziehung zu ihr einlassen soll. Geschweige denn, dass ich wüsste, wie diese aussehen könnte.»
    «Tja, darin liegt definitiv das Risiko. Aber, ich meine   –» Henry hält inne und wägt seine nächsten Worte sorgfältig ab. «Ist nicht genau das manchmal der Punkt? Sprich: ohne Risiko kein Gewinn?» Er räuspert sich. «Mein Vater ist Professor für Mathematik, und er berechnet ständig die Wahrscheinlichkeit von allem Möglichen. Zum Beispiel, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Bus auf den vor ihm fahrenden Wagen auffährt. Oder dass wir pünktlich zur Schule kommen, wenn wir fünf Minuten zu spät aus dem Haus gehen und er mit einer konstanten Geschwindigkeit von fünfzig Stundenkilometern fährt. Also Dinge, die nicht durch Glück oder Zufall oder sonst was bedingt werden. Du weißt schon, eben Dinge, die sich berechnen lassen.»
    Ich nicke. Das alles habe ich schon mal gehört – aus dem Mund von Henrys Vater Phil. Er verwandelte so gut wie alles, was man von sich gab, in ein mathematisches Problem. Natürlich führte das zu vielen langweiligen Unterhaltungen beim Abendessen, und dem sanfteren, einfühlsameren Teil von Henrys Genpool war das sicher nicht eben förderlich.
    Doch während ich jetzt meine alte Liebe ansehe, wird mir klar, dass Henrys ständiges Genörgel hinsichtlich meiner Mutter vielleicht seine Art war, sich um mich zu kümmern. Ich habe es immer als Kritik verstanden, als würde er auf mich herabsehen – und nicht auf mich aufpassen. Aber heute ist von alldem nichts zu spüren, sondern nur Mitgefühl und Anteilnahme.
    «Jedenfalls», fährt er fort, «ist es in diesem Fall vermutlich schwieriger, weil so viele Gefühle involviert sind. Mein Vater würde es als fehlerhafte Formel bezeichnen   … Trotzdem musst du abwägen, ob das Risiko größer ist als der Nutzen.»
    Ehe ich antworten kann, meldet Gene sich wieder durch die Sprechanlage.
    «Jillian? Du kommst zu spät zum Text-Meeting», sagt er zurechtweisend und schaltet gleich darauf wieder ab.
    «Verdammt! Ich muss los.» Ich stehe auf und sammle wahllos irgendwelche Unterlagen vom Tisch und von dem Stapel auf dem Fußboden.
    «Kein Problem», sagt Henry und erhebt sich. «Aber was auch passiert, ich will es wissen, ja?» Er zieht eine Visitenkarte aus der Jackentasche und will sie auf den Tisch legen. Doch er zögert, weil er vermutlich erkennt, dass sie in dem Chaos dort untergehen würde. Also drückt er sie mir direktin die Hand. «Ach ja, und schönes Thanksgiving», fügt er noch hinzu und bewegt sich Richtung Tür.
    «Dir auch.» Ich lächle, bis mir einfällt, das dies technisch gesehen eigentlich unser erstes gemeinsames Thanksgiving wäre und ich damals mit ihm nach Hause gefahren bin, um Phil und seine Mutter Susan, die Physikprofessorin, kennenzulernen.
    «Fährst du nach Hause?», fragt er und dreht sich nochmal um.
    «Nein, zu Jack.» Ich zucke die Achseln. «Und du?»
    «Zu Celeste», erwidert er und imitiert lächelnd meine Geste. «Was muss, das muss.»
    Dann war das vorhin wohl doch kein Euphemismus für «Wir haben uns getrennt»
, denke ich. Es versetzt mir einen Stich.
    «Also dann», sagt er gedehnt und ohne Eile. «Und denk an die Formel: Risiko oder Nutzen. Was ist wahrscheinlicher?»
    «Ich werde es nicht vergessen», erkläre ich und werfe ihm einen letzten Blick zu, ehe ich in Richtung Konferenzraum abbiege. «Um ehrlich zu sein, überlege ich das schon die ganze Zeit.»
     
     
    HENRY
    Als Henry mich das erste Mal auf meine Mutter ansprach, war Katie siebeneinhalb Monate alt.
    Ich erinnere mich so genau daran, weil sie damals gerade zu krabbeln anfing und damit

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