Gestern fängt das Leben an
meines Lebens vor.
Als ich meine Mutter jetzt ansehe, muss ich an diese ersten Wochen mit Katie denken. Ständig fragte ich mich, ob ich einen Fehler machte. Und diese Sorge hat eigentlich nie nachgelassen.
Es lässt sich wohl nicht leugnen, wie ähnlich wir beide gestrickt sind.
Nachdenklich kauen wir unsere Sandwichs und bleiben stumm.
Schließlich sage ich: «Aber wieso jetzt? Es ist achtzehn Jahre her. Wieso ausgerechnet jetzt?»
«Es gibt noch mehr zu erzählen.» Sie nimmt einen großen Schluck Tee.
Ich nicke und warte. Meine Mutter beugt sich zu ihrer Brieftasche, nimmt ein Foto heraus und schiebt es mir über den Tisch zu.
Ich schüttle irritiert den Kopf. «Was soll das?»
Der Schnappschuss zeigt meine Mutter am Bug eines Segelbootes, direkt unter ihr sitzt ein Mädchen, und neben ihr steht ein Mann, wahrscheinlich ihr zweiter Ehemann, der einen Arm um ihre Schulter gelegt hat.
Sie räuspert sich, bevor sie behutsam anfängt zu sprechen. «Das ist deine Schwester.» Sie wartet auf eine Antwort von mir, aber ich weiß keine: Ich fühle mich, als würde mir jemand die Kehle zudrücken. Und plötzlich erklingt wieder ihre Stimme: «Sie ist jetzt neun, genauso alt wie du damals, als ich euch verlassen habe.» Sie hält inne, und ich sehe ihr an, dass sie einen Weg sucht, es richtig auszudrücken. Aber in meinem Innersten tobt ohnmächtige Wut. Ich will ihr sagen, dass sie aufhören soll, endlich still sein soll, weil es keine Möglichkeit gibt, das hier richtig auszudrücken.
«Wenn ich sie jetzt ansehe», fährt meine Mutter fort, «wenn ich sehe, wie kostbar sie ist, und – Jill ….» An diesem Punkt streckt sie die Hand über den Tisch nach meiner aus. Aber meine Hände sind schweißnass, und ich ziehe sie mit einem Ruck zurück. «Ich sehe sie an, und ich kann nicht glauben, dass jemand, der so jung ist wie sie, so unschuldig und unbedarft, ohne die eigene Mutter leben kann.»
Ich starre meine Mutter einen Moment lang an, dann trifft mich wie ein Faustschlag die Erkenntnis, dass all dies, unser Treffen, unser Wiedersehen … dass es ein Riesenfehler war. Die Heilung, die ich mir davon versprochen habe, ist ein Trugschluss.
Ach, verpiss dich!,
denke ich und bin selbst überrascht von der Heftigkeit meiner Reaktion. Dann sprudeln die Worte nur so aus mir heraus.
«Aber jetzt bleibst du bei ihr, obwohl dir das bei mir nichtgelungen ist, ja? Jetzt willst du das zerbrechliche Wesen beschützen, aber Andy und mich hast du im Straßengraben zurückgelassen, ja?» Ich speie ihr meine ganze Wut entgegen und bücke mich nach meiner Handtasche.
«Das war’s, Ilene, mir reicht’s. Ich habe keine Ahnung, was du dir von unserem Treffen versprochen hast, aber ich habe keine Lust, dein Spiel mitzuspielen.» Überhastet stehe ich auf und versuche, die zornigen Tränen zurückzuhalten.
«Jillian, bitte, lass es mich erklären. Bitte geh jetzt nicht.» Ihre Stimme klingt flehend. Sie greift nach meinem Arm. «Ich will es so gerne wiedergutmachen.»
«Es gibt nichts, was du heute noch wiedergutmachen könntest!», zische ich. «Gar nichts.»
Hilflos lässt sie die Hand sinken. Daraufhin rase ich zur Tür. Sie soll mich auf keinen Fall zusammenbrechen sehen.
Während ich die Straße betrete, denke ich, dass es immer das Gleiche ist mit den Menschen, die ich liebe: Immer verlässt einer von uns den anderen, auch wenn unsere Absichten eigentlich ganz anders waren.
20
«Das ist es. Das ist dein Kleid, definitiv!», sagt Ainsley, die es sich im Showroom von Vera Wang in einem cremefarbenen Sessel bequem gemacht hat. Sie nimmt ihre Tasse koffeinfreien Kaffee vom Tisch und sieht zwischen mir und Megan hin und her. «Das ist dein Hochzeitskleid.»
«Meinst du?» Ich drehe mich vor dem dreiteiligen Spiegel und verrenke mir den Hals, um die Rückseite zu betrachten. Der Großteil meines Rückens ist frei, nur entlang der unteren Wirbelsäule verlaufen unzählige winzige, handgenähte Knöpfe. «Und Meg? Gefällt es dir?»
«M-hm», antwortet sie zurückhaltend.
Ich drehe mich wieder um. «Mir gefällt es», sage ich und streichle die perlenbesetzte Korsage und den schweren Seidenorganza. «Aber sollte ich es nicht, na ja,
spüren
, wenn ich das richtige Kleid gefunden habe?»
Ainsley schüttelt den Kopf. «Ich glaube, irgendwann siehst du einfach eins, das du toll findest, und das ist es dann. Du musst weder in Tränen ausbrechen noch eine Offenbarung haben.» Sie legt den Kopf schief. «Ich habe
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