Gestern fängt das Leben an
sprichwörtlich den Bewegungsablauf meines Tages durcheinanderbrachte. Ich konnte sie nicht mehr einfach schnell auf den Boden
setzen und ans Telefon gehen, wenn es läutete. Das erste (bzw. letzte) Mal, als ich das tat, war sie verschwunden, als ich zurück ins Wohnzimmer kam. Panisch lief ich durchs Zimmer und rief ihren Namen, bis ich sie endlich unter der Klavierbank entdeckte. Es war die längste Minute meines Lebens. Katie fingerte, leise brabbelnd, an den goldenen Pedalen herum.
Ich weiß nicht, warum Henry damals von meiner Mutter anfing. Wahrscheinlich, weil er dachte, mein eigenes Mutterdasein wäre erfüllender für mich, wenn ich mit meiner kaputten Kindheit ins Reine käme.
Anfangs brachte er das Thema aufgrund von Kleinigkeiten ins Spiel: Zum Beispiel sah er auf der Straße eine ältere Dame, die aufgrund der Ähnlichkeit mit mir meine Mutter sein könnte. Oder er zitierte einen Artikel aus der New York Times über die genetische Prägung von Kindern und die Tatsache, dass wir, ob wir wollen oder nicht, unsere eigenen Verfehlungen an unseren Nachwuchs vererben. Manchmal fragte er ganz beiläufig nach mei
ner
Mutter, wenn ich gerade mitten in den Vorbereitungen fürs Abendessen steckte: Ob sie eigentlich eine gute Köchin gewesen sei und ob sie auch so eine Abneigung gegen Basilikum gehabt hätte wie ich. (Das stimmte, allein schon vom Geruch muss ich würgen.)
Zuerst machte mir das nicht viel aus. Es erschien mir lediglich wie der Versuch, eine Schicht der Zwiebel zu häuten und etwas mehr über seine Frau zu erfahren. Und das war ja prinzipiell auch eine sinnvolle Sache in einer Ehe. (Das suggerieren jedenfalls die vielen Frauenzeitschriften: Oh, eine Ehe, in der beide noch Geheimnisse des anderen entdecken!, würden sie tönen.)
Henry machte also seine beiläufigen Bemerkungen, und ich versuchte, seine Fragen stets mit einem Lächeln abzutun. Aber bald wurde mir klar, dass Henrys Kommentare Teil eines größeren Plans waren, einer Strategie, die zum Ziel hatte, eine Aussöhnung zwischen mir und der Frau zu erzwingen, die mich im Stich gelassen hatte.
Eines Abends platzte mir jedoch der Kragen.
«Du hast mich doch früher auch damit in Ruhe gelassen» , giftete ich ihn mit eisiger Stimme an, weil ich verdammt nochmal wollte, dass er endlich nicht mehr mit diesem blöden Thema ankam. Demonstrativ kehrte ich ihm den Rücken zu und spülte weiter schweigend ab.
«Ich glaube, es ist wichtig» , wiederholte er. «Ich glaube, für Katie ist es wichtig zu wissen, wer ihre Großmutter ist. Aber vor allem glaube ich, dass es für dich selber wichtig ist, endlich Antworten auf deine Fragen zu bekommen.»
«Ich habe keine Fragen» , brummte ich und schrubbte weiter an einem Topf herum.
«Doch, du hast jede Menge Fragen» , widersprach er. «Und es sind Fragen, die durchaus eine Antwort verdient haben. Ich glaube» , er zögerte und wog seine Worte sorgsam ab, «dass die Antworten dir helfen könnten, glücklicher zu sein. Dir vielleicht dabei helfen könnten, Klarheit in ein paar Dinge zu bringen.»
«Ich muss keine Klarheit in irgendwelche Dinge bringen!» , zischte ich. «Und wieso behauptest du eigentlich, ich sei unglücklich oder unzufrieden in meinem Leben? Ich brauche diese Frau nicht!» Ich knallte den Topf in die Spüle, riss mir die Handschuhe herunter und verschwand ins Kinderzimmer, um nach Katie zu sehen. Im Dämmerschein des Nachtlämpchens setzte ich mich in den Schaukelstuhl
und wiegte mich vor und zurück. Ich lauschte auf Katies gleichmäßigen Atem, und irgendwann hörte ich, wie Henry nebenan ins Schlafzimmer verschwand.
Wer hat dich gefragt?, dachte ich. Wer gibt dir das Recht dazu, verdammt nochmal? Als hättest du die Weisheit mit Löffeln gefressen!
Ich schaukelte und schaukelte und fiel schließlich in un
ruhigen
Schlaf.
Aber nicht einmal, nicht einen einzigen Moment lang, kam mir in den Sinn, dass der Mann, der mich liebte, auch wenn er sich manchmal so fern anfühlte, vielleicht recht hatte.
21
Jack und ich sitzen im Zug, um Thanksgiving bei seinen Eltern zu feiern.
Wir haben die letzten freien Plätze ergattert, weil alles voll ist von Kurzurlaubern auf dem Weg zum obligatorischen Truthahnbraten bei ihren Liebsten (oder auch nicht ganz so Lieben). Die Luft ist zum Schneiden, die Scheiben sind beschlagen, und ich ersticke fast an meinem Wollschal.
Als mein Handy klingelt, schäle ich mich aus meinen Winterklamotten, nehme die Arbeitsunterlagen vom Schoß und wühle in
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