Gestern fängt das Leben an
doch ein unglaubliches Gefühl, zu wissen, dass in mir ein neuer Mensch heranwächst.»
«Das ist absolut wunderbar, Süße», bestärke ich sie. «Und du wirst das niedlichste Erdenkind hervorbringen, das die Welt je gesehen hat.»
Also, das niedlichste Kind
nach
Katie, füge ich im Geiste hinzu.
«Aber jetzt mal im Ernst, Megan, was hast du an einem Freitagabend in einem stickigen Büro wie diesem zu suchen?», fragt Josie noch einmal.
«Das ist meine Schuld», gebe ich zu und leere die Schachtel Mu Shu auf meinen Teller. «Megan und ich kaufen jedes Jahr kurz vor Weihnachten gemeinsam unsere Geschenke. Und dieses Jahr …» Ich deute auf das Chaos in meinem Büro. «Dieses Jahr habe ich nicht mal dafür Zeit gehabt. Also ist sie hergekommen. Online-Shopping.»
«Das sind zwar nicht gerade die Mußestunden, die ich mir gewünscht habe», lacht Megan, «aber immerhin gibt es chinesisches Essen umsonst. Man nimmt, was man kriegen kann.»
«Ach, diese blöde Kampagne für Coca-Cola!», seufzt Josie. «Ich habe mit den Weihnachtsgeschenken noch nicht mal angefangen.»
Ich kann ihr Stöhnen nur zu gut verstehen. In letzter Minute haben die Coke-Manager unseren Text für die neue Anzeige gekippt. Wir mussten mit dem Brainstorming nochmal ganz von vorne anfangen.
«Ach, und wo wir gerade von Schwangerschaft sprechen –», sagt Megan und bückt sich nach ihrer Handtasche.
«… was wir eigentlich gar nicht tun», bemerkt Josie.
«Aber fast», entgegnet Meg und zieht einen Umschlag aus der Tasche. «Hier. Das wollte ich dir zeigen, Jillian.» Sie schiebt den Umschlag zwischen den Pappschachteln zu mir durch.
Ich fahre mit dem Finger unter die Lasche und hole ein paar verschwommene, grobkörnige Schwarzweißbilder heraus. Für ein ungeübtes Auge mögen sie aussehen wie Schnappschüsse von einem Alien, aufgenommen von einerSpionagekamera im Weltall. Aber für eine Mutter sind sie der augenfällige, greifbare Beweis für das Baby, das in ihr heranwächst.
«O mein Gott, Megan!» Ich schlage die Hand vor den Mund und sehe sie an.
In ihren Augen stehen ebenfalls Tränen. «Das ist unser Kleines», sagt sie stolz, und endlich kommt etwas Farbe in ihr blasses, schwangeres Gesicht, als würde der Gedanke an ihr Baby sie zum Leben erwecken. «Sie wurden letzte Woche gemacht, als der Herzschlag zu messen war.» Sie schüttelt den Kopf. «Das Unglaublichste, was ich je gesehen habe.»
Ich starre die kleine, schwarzweiße Bohne an und muss an meinen ersten Ultraschalltermin denken.
Zu Beginn des vierten Monats fing mein Bauch gerade an, sich ein bisschen zu wölben. Als die Ärztin mir das kalte Gel auf die Haut strich, zuckte ich zusammen. Henry hielt meine Hand ein wenig fester, und wir sahen beide wie gebannt in den Monitor. Die Ärztin fuhr mit dem Schallkopf hin und her, bis sie auf einmal merklichen Druck ausübte und dann –
peng
, war sie da: Katie. Auf dem Bildschirm waren winzige Ärmchen und Beinchen zu sehen, ein aufgeblähter Bauch und ein vollkommen gerundeter Kopf. Sie schien in meinem Bauch Purzelbäume zu schlagen und ihre ganz private Party zu feiern. Spüren konnte ich sie noch nicht.
«Da haben Sie aber eine schöne Hand voll», sagte die Ärztin.
Henry und ich waren viel zu bewegt, um ihren Kommentar zu erwidern. Verstohlen sah ich zu ihm hinüber und erwischte ihn dabei, wie er sich eine Träne von der Wange strich.
Als wir gingen, drückte uns die Arzthelferin ein paar Ausdrucke von unserem Baby in die Hand. Danach saß ich stundenlang in unserer halb in Kisten verpackten Wohnung und starrte die Bilder an. Voller Erstaunen und Hoffnung starrte ich und starrte und war mir sicher, dass ich dieses Kind mehr lieben würde als alles andere auf der Welt. Selbst wenn es bedeuten würde, nach Westchester zu ziehen, meinen Job aufzugeben und aus dem Schatten meiner eigenen Mutter zu treten. Aber dieses Kind lieben, das konnte ich.
Josie rutscht nun ebenfalls näher, um sich die Ultraschallbilder anzusehen. Zu dritt sitzen wir eng gebeugt über dem Bild von Megans Zukunft.
Josie, die Kampferprobte, die das Gefühl hat, selbst bei alldem zu kurz zu kommen. Ich, die Verzweifelte, die nicht weiß, was sie festhalten und was sie loslassen soll. Und Megan, die Hoffnungsvolle, für die es noch so viel zu erleben gibt.
Doch im Licht der Großstadt, das hinter uns durchs Fenster fällt, sehen wir alle gleich aus: Drei Frauen, deren Leben durch ihre Kinder unweigerlich verändert werden.
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