Gestern fängt das Leben an
dringt durch die geschlossene Tür. «Geht’s dir gut?»
Allie!
, denke ich. «Ja, äh … Alles okay, Süße. Ich bin in einer Minute bei euch.» Meine Stimme ist eine Oktave zu hoch.
«Beeil dich, ich muss dir was zeigen», ruft sie, und ihre Schritte entfernen sich hopsend.
Ich stehe auf, spritze mir etwas Wasser ins Gesicht und werfe einen prüfenden Blick in den Spiegel.
Thanksgiving war für mich seit meiner Kindheit der ungeliebteste aller Feiertage. Viele Jahre blieb uns nichts anderes übrig, als ihn gemeinsam durchzustehen und in stoischem Schweigen den leeren Platz zu ignorieren, auf dem meine Mutter immer saß. Unser erstes Thanksgiving ohne sie stand nur sieben kurze Wochen, nachdem sie gegangen war, an. Mein Vater hatte sich den ganzen Tag ebenso verzweifelt wie vergebens in der Küche abgemüht. Er wollte ein hausgemachtes Festessen fabrizieren, so wie meine Mutter es immer scheinbar mühelos getan hatte. Ich sehe mich noch heute als Kind in der Küchentür stehen und sie dabei beobachten, wie sie sich vom Ofen zum Herd und zurück zum Ofen bewegt, um nach dem Truthahn zusehen, nach der Bratensoße und nach der Füllung. Nicht einmal geriet sie dabei ins Stocken – als sei das Kochen ihre zweite Natur gewesen, als hätte sie nicht glücklicher sein können.
Doch dann war sie verschwunden.
Und sosehr mein Vater sich auch mühte, sein Truthahn war stets zu trocken, die Soße zu salzig und die Süßkartoffeln so matschig, dass ich sie nur auf meinem Teller herumschob. Jedes Jahr bemühte er sich, zu lächeln. Doch die Tränen, die in meinen Augen lauerten, verrieten mehr über seine Traurigkeit, als sein falsches Grinsen es je vermocht hätte.
Ich betrachte mich in Vivians Schminkspiegel und unterdrücke einen Schmerzensschrei. Schmerzen von meinen gequetschten Füßen in den blöden Pumps. Von den Gedanken an meinen Vater, der krampfhaft versuchte, uns die Feiertage mit aufgesetzter Fröhlichkeit zu versüßen. Und von der Erinnerung an mein altes Ich, das eines Morgens aufwachte und sich in eine für den Countryclub gestylte, ewig strahlende Supermutti verwandelt hatte.
Aber da ist auch ein undefinierbarer Schmerz um mein jetziges Ich. Denn es fühlt sich trotz aller Mühen verdächtig nach meinem alten Ich an, dem ich mit aller Macht zu entrinnen versuchte.
Ich gleite die hellgraue Wand entlang auf den kalten Fliesenboden und denke an meine Mutter. Daran, wie sie beim Kochen manchmal so selbstvergessen summte, dass sie nicht merkte, wie ich sie beobachtete. Und dann muss ich daran denken, dass ich in meinem alten Leben genau das Gleiche gemacht habe: Ich sang mir bei der Hausarbeit selber vor. Doch das gedankenverlorene Summen übertöntenur die tieferliegenden, dunkleren Töne, vor denen ich viel zu viel Angst hatte.
Die Wand fühlt sich kühl an, und plötzlich springt der Radiator an und bläst mir einen Schwall heiße Luft entgegen. Ich bleibe sitzen, bis meine Rückenmuskeln völlig verspannt sind und Allie wieder vor der Tür steht. Als sie mich ruft und nach meiner Aufmerksamkeit verlangt, trifft mich plötzlich und glasklar eine Erkenntnis: Ich kann mich zwar vor meiner Mutter verstecken, aber es ist unmöglich, ihr zu entkommen. Denn ich laufe nicht nur vor der Erinnerung an sie davon, sondern vor allem vor der Tatsache, dass ich meiner Mutter mit jedem Jahr immer ähnlicher werde und ich dabei bin, die gleichen Fehler zu machen.
22
Ich habe ein Personal-Meeting sausenlassen, um mir ein winziges Freizeitfenster freizuschaufeln. Meine Mutter war einverstanden, sich mittags mit mir am Südtor des Central Park zu treffen.
Es ist ein ungewöhnlich milder Tag für Anfang Dezember, obwohl es zu Wochenbeginn geschneit hat. Die kalte Nässe hat die Wiesen in Matsch getaucht, und an jeder Ecke lauern Pfützen auf die Spaziergänger.
Von meinem Versteck hinter einem Busch aus sehe ich meine Mutter, wie sie heraneilt, ohne dass sie mich entdeckt. Wie neulich im Café ist sie auch diesmal wieder früh dran.
Henry (mein alter Henry) wäre stolz auf mich,
denke ich. Er hatte mich unablässig bedrängt, den Kontakt zu ihr zu suchen. Seine Anspielungen waren irgendwann nicht mehr subtil und auch nicht mehr in Watte gepackt. Nein, am Ende wollte er eine Wiedervereinigung
erzwingen
.
Wenn er mich jetzt hier sehen könnte, kurz davor, die Demarkationslinie zwischen meinem kindlichen und meinem erwachsenen Ich zu übertreten, wäre er sicher stolz auf mich.
Aber während ich hier stehe und
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