Gestern fängt das Leben an
dabei nie bedacht, dass ich damit ja auch das Leben anderer Menschen berühre. Wie das Leben von Josie und Bart zum Beispiel. Oder von Henry und Celeste.
Und jetzt betrifft es Megan und Tyler.
Sie sei erst in der fünften Woche, sagt sie, und wolle deswegen ihre Hoffnungen nicht allzu hochhängen, aber sie fühle sich gut. Vor Erleichterung redet sie wie ein Wasserfall. Zwar leide sie nicht unter Morgenübelkeit, was aber bestimmt bald kommen würde.
Draußen rast die Welt an mir vorbei. Ich starre zum Fenster hinaus. Pinien verschwimmen ineinander, und brachliegende Winterfelder wechseln sich mit braunen, verlassenen Weideflächen ab. Ich lausche Megan in ihrem Überschwang und habe endlich das schöne Gefühl, dass hier ausnahmsweise alles so läuft, wie es eigentlich laufen sollte.
Während die Landschaft an mir vorbeifliegt, denke ich, dass meine Rückkehr tatsächlich einige Dinge verändert hat, und dass die Veränderung in manchen Fällen genau das ist, was es brauchte. Oder, wie Henry vielleicht einst mit einemCountry-Star gesungen hat: Manche Veränderungen zahlen sich aus!
***
Es ist mein erstes Thanksgiving bei Jacks Familie. Im letzten Jahr (in meiner Vergangenheit) war ich mit meinem Vater, Linda und Andy in Florida. Und ein Jahr zuvor waren Jack und ich noch nicht so weit. Eine Diskussion darüber, wo wir die Feiertage verbringen sollten, kam gar nicht auf.
Dank des Glitzerrings an meinem Finger werde ich nun in die Turnhill-Sippe integriert. Vivian hält ihre (früher festverschränkten) Arme so weit für mich geöffnet wie nie. Trotzdem fühle ich mich unwohl.
Ich meine, ich habe natürlich versucht, nicht unvorbereitet zu kommen. Am liebsten trage ich ja Jeans und T-Shirt , aber heute Abend werde ich sittsam gekleidet sein wie eine College-Absolventin, inklusive honigfarbenem Kaschmirpulli, Bleistiftrock aus Tweed und Peeptoes aus Eidechsenleder.
Peeptoe-Schuhe
!
, denke ich, während ich in die Pumps schlüpfe.
Welcher Mensch trägt im eigenen Haus Absätze zum Abendessen?
Die Antwort lautet: Vivian. Und deshalb gehe ich jetzt auch auf eleganten Absätzen die Treppe hinunter ins Wohnzimmer. Leigh sieht mich als Erste.
«Ach du meine Güte!» Sie lacht. «Du siehst aus wie eine von denen.» Sie deutet mit dem Ellenbogen in Richtung Bibliothek, wo ihre beiden Schwestern und ihre Mutter es sich vor dem Kamin bequem gemacht haben. Leigh selbst trägt eine enganliegende, schwarze Hose, den dazu passendenRollkragenpullover und Ballerinas mit einem dezenten, silbernen Emblem.
Alles in mir schreit förmlich auf vor Neid.
«Äh, ich versuche nur, meiner Rolle gerecht zu werden», erwidere ich achselzuckend.
«Du meinst, du versuchst, deine Rolle zu
spielen
», sagt Leigh und lächelt mich freundlich an. Aus ihrem Mund klingt es nicht verletzend, sondern eher mitfühlend. «Na komm, genehmigen wir uns was zu trinken. Das kann ein ziemlich langer Abend werden.»
Zwei Bourbons später stehe ich in der Küche und helfe Vivian mit dem Truthahn. Sie wärmt die (vorbestellte und gelieferte) Füllung auf und rückt ganz nah, viel zu nah, an mich heran.
«Jill, da du ja nun bald zur Familie gehörst, würde ich mich freuen, wenn du mich ‹Mom› nennst.»
Ich fahre herum. Sie hat mich eiskalt erwischt. Wir stehen so eng zusammen, dass – wäre dies ein Film – das Publikum vor Spannung in den Kinosesseln unruhig herumrutschen würde. Wer stürzt sich zuerst auf den anderen?
Schnell mache ich einen Schritt zurück und stoße mich am Backofen. «Oh, Vivian, ich bin … Äh, ich bin wirklich …»
Ihr Lächeln wirkt plötzlich wie das einer Besessenen. Wie das rätselhafte Grinsen der Grinsekatze, und ich muss unwillkürlich an
Alice im Wunderland
denken. Zu ihrem ersten Geburtstag habe ich Katie eine illustrierte Ausgabe geschenkt. Ich konnte es einfach nicht erwarten, ihr endlich die Geschichte von dem Mädchen zu erzählen, das in ein Kaninchenloch fällt und so wundersame Dinge erlebt.
«Entschuldigung», sage ich mit Panik in der Stimme,ducke mich zwischen Vivians Atem und dem heißen Ofen hinter mir weg und fliehe ins Bad.
Ich stürze zur Toilette und versuche, wieder Luft zu bekommen. Mit schweißnassen Händen fasse ich mir an den Hals und zerre an meiner Perlenkette. Mein Herz rast, und ich habe das Gefühl, als würde alles um mich herum immer näher kommen.
Einatmen, ausatmen. Einatmen …
Aber die Platzangst lässt sich nicht vertreiben.
«Tante Jilly?» Eine Kinderstimme
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