Gestern fängt das Leben an
siehst. Ich habe miralle Mühe gegeben, so viel von deiner Fröhlichkeit zu bewahren, wie ich konnte.»
Schweigend überdenke ich meine Worte – und meine Wut auf Mom und wie ich versucht habe, sie auszublenden und ihr genau dadurch vielleicht erlaubt habe, mich aufzufressen. Aber jetzt, wo ich mein eigenes Kind im Stich gelassen habe … Jetzt, wo ich die Einsamkeit verstehe, die einen völlig auffressen kann, beginne ich an dem Mantra zu zweifeln, das ich so viele Jahre rauf- und runtergebetet habe.
«Es tut mir leid», sage ich. «So habe ich es nicht gemeint. Du hast recht. Sie hat uns nicht zerstört. Ich weiß nicht mal genau, wieso ich das gesagt habe.»
«Ich glaube, du hast es gesagt», entgegnet mein Vater, «weil du so lange Jahre daran geglaubt hast. Du hast dich geweigert, zu erkennen, dass wir, obwohl sie uns verlassen hat, nicht völlig Schiffbruch erlitten haben. Wir sind leckgeschlagen, das ja, aber gesunken sind wir nicht.» Er ringt sich ein Lachen ab. «Außerdem finde ich, ich habe einen ziemlich guten Job gemacht.»
«Das hast du!» Ich lächle ihn an. «Das hast du wirklich.» Ich beuge mich zu ihm und gebe ihm einen Kuss auf die unrasierte Wange. «Aber eines interessiert mich noch: Wenn du Mom vergeben hast, wieso hast du Linda dann nie gefragt, ob sie dich heiraten will?»
«Ha! Machst du Witze?» Er grinst. «Ich habe sie mindestens fünfmal gefragt! Sie hat nur nie ja gesagt. Sie findet mich zu alt und zu schlampig.»
«Oh, ich …» Mir bleibt die Luft weg, weil auf einmal alles, was ich zu wissen glaubte, auf den Kopf gestellt wird. «Ich dachte einfach immer, du würdest nie wieder heiratenwollen. Ich war mir dessen so sicher.» Ich versuche, den Druck aus meiner Lunge zu atmen und meinen Puls in den Griff zu bekommen.
«Nun», sagt er und streicht mir übers Haar. «Jetzt weißt du es: Ich würde Linda vom Fleck weg heiraten.» Er steht auf und zögert. «Jilly, bitte verrenn dich nicht in die Vorstellung, dass jeder dich im Stich lassen wird, wie deine Mutter es getan hat. Denn obwohl sie getan hat, was sie getan hat, hatte sie vermutlich ihre Gründe dafür.» Er küsst mich auf den Scheitel. «Weißt du, das mit der Ehe ist wirklich nicht so einfach. Das wirst du sehr bald schon selbst feststellen.»
Das stimmt,
denke ich, fahre mit dem Finger durch den Sirupsee auf meinem Teller und muss an meine bevorstehende Heirat denken.
Es ist auf eine Weise schwer, die man erst realisiert, wenn man selber drinsteckt.
So schwer kann es ja nicht sein, sagt man sich. Gut, ich meine, er lässt zwar seine Socken überall herumliegen, und vielleicht ist er auch ein bisschen leichtsinnig, was das Geld angeht, aber ansonsten? Es wird schon nicht so schwer sein!
Die Duschgeräusche versiegen, und kurz darauf vibriert die Decke durch Andys schwere Schritte.
Dann schneit Linda herein. Sie flötet ein lautes «Fröhliche Weihnachten!» und bringt heißen Eggnog für alle.
Mein Vater und Linda verschwinden mit ihrem Punsch im Wohnzimmer, und ich sehe ihnen nach. Seine Hand ruht sanft auf ihrem Rücken.
Als ich meinen Blick wieder in den verlassenen, schlafenden Garten wende, frage ich mich, wie ich so Vieles so lange falsch verstehen konnte. Und was mich noch mehrüberrascht als all die Enthüllungen selbst ist die Tatsache, mit wem ich sie jetzt am liebsten teilen würde: mit Henry, dem Mann, vor dem ich geflohen bin, genau wie meine Mutter zwanzig Jahre vor mir.
***
Nach Jahren ohne meine Mutter hat mein Vater tatsächlich Kochen gelernt. Den ganzen Nachmittag versuche ich, ihm zu helfen, aber er wirft mich immer wieder aus der Küche und verscheucht mich mit der Frage: «Was verstehst du schon von Haute Cuisine?»
Mindestens doppelt so viel wie du
, will ich sagen und denke an all die Ausgaben von
Gourmet
,
Bon Appétit
und
Essen&Trinken
, die gut sortiert in meiner professionell ausgestatteten Vorortküche gestanden haben.
Mein Bruder hat sich, nachdem er seinen Eggnog geschlürft hat, wieder ins Bett verzogen, und auch Linda hat sich hingelegt. Bis auf gelegentliches Töpfeklappern und Murmeln in der Küche ist es still im Haus.
Ich zappe mich ein bisschen durchs Fernsehprogramm, überfliege die Schlagzeilen in der Zeitung und schlüpfe schließlich zur Haustür hinaus in die gefrorene Welt. Draußen wirkt alles wie auf einem fremden Planeten. Der Schnee knirscht laut unter meinen Füßen, während ich mir einen Weg durch die zugeschneite Straße bahne.
Ich lasse mir das
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