Gestern fängt das Leben an
beobachte, wie meine Mutter nervös auf ihrer Lippe kaut und suchend die Passanten mustert, wird mir klar, dass es keine Rolle spielt, was Henry denkt. Es geht gar nicht darum, ihm zu gefallen oder ihn stolz auf mich zu machen. Eigentlich ging es darumauch in meinem alten Leben nicht. Nur, dass ich mich damals allmählich auch von ihm verraten fühlte. Verraten von dem Menschen, der mir am nächsten war.
Anstatt mich gegen ihn zu sperren, hätte ich Henry wahrscheinlich besser zuhören sollen. Die Gründe dafür, weswegen ihm die Versöhnung zwischen mir und meiner Mutter so wichtig war. Und ich hätte ihm deutlich sagen sollen, weshalb ich eine Versöhnung nicht ertragen könnte. Vielleicht wäre es uns dann gelungen, Verständnis füreinander zu entwickeln, anstatt einander emotionale Gräber zu schaufeln.
Das wäre sicher auch dem Henry, den ich bei meiner zweiten Chance kennenlernen durfte, lieber gewesen. Und während ich meiner Mutter dabei zusehe, wie sie nervös auf die Uhr blickt, wird mir klar, dass auch mir das letztlich lieber gewesen wäre.
Ich atme tief ein und wieder aus und versuche zum ersten Mal seit langer Zeit ganz bewusst, auf meine eigenen Bedürfnisse zu lauschen. Was brauche ich jetzt? Jetzt und hier. Nicht, was ich meiner Meinung nach für die Zukunft tun muss, oder was ich tun muss, um meiner Vergangenheit zu entkommen. Nein, nur im Hier und Jetzt. Und nur ich, mit mir allein, für mich.
Noch immer hält mich etwas zurück, als wäre ich in einer undurchdringlichen Riesenblase gefangen.
Ich bin noch nicht bereit
, denke ich.
Ich bin noch nicht bereit, loszulassen. Ich wünschte, es wäre so, aber das alles ist kein Kinderspiel. Ich bin einfach nicht in der Lage, ihr zu verzeihen, nur weil sie mir ein Zeichen gegeben hat. Noch nicht.
Die Worte hallen in mir nach. Ihr Echo ist klar, und ich spüre jetzt ganz deutlich, dass mein Gefühl richtig ist.
Anstatt die Straße zu überqueren und die Narben, die ich noch immer in mir trage, glattzuschleifen, ziehe ich mir die Kapuze fest über den Kopf, drehe mich um und bin wie ein Gespenst verschwunden.
***
«O Gott, wonach riecht es denn hier?», ertönt später am Abend Josies Stimme durch den Büroflur. Dann steckt sie den Kopf zur Tür herein.
«Chinesisch!», sage ich und deute zum Schreibtisch, auf dem Megan und ich diverse Speisen ausgebreitet haben. «Willst du auch was? Wir haben viel zu viel bestellt.»
«Sag das nicht.» Megan taucht die Essstäbchen in ihren Pappteller. «Ich esse schließlich für zwei.»
«Hey! Gratuliere!» Josie küsst Megan auf die Wange und schnappt sich mit den Fingern ein Wan Tan. «Und was tust du an einem Freitagabend hier?»
Megan hat den Mund so voll, dass sie nur grunzen und auf mich zeigen kann.
«Du musst sie entschuldigen», sage ich. «Sie ist in der zehnten Woche und hat seit einem Monat nichts mehr im Körper behalten.»
«Endlich ist Schluss mit der morgendlichen Kotzerei», ergreift Meg das Wort, als sie endlich heruntergeschluckt hat.
«Du Glückliche! Ich hatte bei meinen beiden Kindern bis zum Ende damit zu kämpfen», sagt Josie und schnappt sich einen Teller. «Alle haben behauptet, dass es nach den ersten drei Monaten vorbei wäre, aber nein, ich habe gekotzt bis zur Geburt.»
«Ja», sage ich verständnisvoll, «aber am schlimmsten ist doch das Sodbrennen, findest du nicht?»
Die beiden reißen die Köpfe hoch und sehen mich verständnislos an.
Mist!
«Äh, ich meine … Das habe ich gelesen. Dass das Sodbrennen am schlimmsten ist», versuche ich mich rauszureden.
«Ach, die ganze Schwangerschaft ist schlimm.» Josie wedelt mit den Essstäbchen, und mir fällt auf, dass sie immer noch ihren Ehering trägt. Seit zwei Monaten hat sie die Affäre mit Bart nun mit keinem Sterbenswörtchen mehr erwähnt. «Es ist mir völlig egal», fährt sie fort, «was in diesen ganzen dämlichen Büchern steht. Eine Schwangerschaft ist jedenfalls definitiv nicht die beste Zeit im Leben einer Frau.»
Megan erstarrt und sieht Josie ungläubig an, als hätte diese ihr gerade eröffnet, die Erde wäre eine Scheibe.
Ich versuche, Josies Bemerkung mit einem Lächeln abzumildern. Nach allem, was Megan durchgemacht hat, verdient sie nicht mal einen Fingerhut des Zynismus meiner Chefin. Auch wenn sie sich exakt so anhört wie die Ratgeber, die bei mir während der Schwangerschaft stapelweise auf dem Nachttisch lagen.
«Also», sagt Megan vorsichtig, «ich finde es wunderbar. Ich meine, es ist
Weitere Kostenlose Bücher