Gestern fängt das Leben an
Nacht hat es heftig geschneit, und als ich am Weihnachtsmorgen im Bett meiner Kindheit erwache, bin ich einen Moment lang orientierungslos. Verloren zwischen Gegenwart und Vergangenheit, zwischen meinem Teenager-Ich und der erwachsenen Frau, die ich geworden bin.
Der süße Duft nach Pfannkuchen lockt mich aus dem Bett, und ich tapse in die Küche, wo mein Vater in einem dunkelgrünen Morgenmantel, an dem noch das Etikett hängt, am Herd steht.
«Fröhliche Weihnachten, mein Vögelchen», sagt er, tritt einen Schritt zurück und gibt mir einen Kuss. «Den hat Linda mir für dich aufgetragen. Sie ist losgesaust, um Kaffee zu holen.» Er wirbelt herum, und ein Klecks Butter fliegt vom Pfannenwender und landet auf der Kühlschranktür. «Möchtest du?»
«Mhm», antworte ich und sehe fragend zur Decke, weil von oben Wasserrauschen zu hören ist.
«Andy», sagt mein Vater. «Er ist gestern spät nachts aus Singapur gekommen.» Er hebt zwei Pfannkuchen vom Rost auf einen Teller und stellt sie auf den Tisch. «Setz dich», befiehlt er mir, «und iss. Du siehst nicht besonders gut aus.»
Ich träufle mir großzügig Ahornsirup auf meinen Pfannkuchen (ich höre schon die Frauenzeitschriften warnen:
Der Zucker raubt Ihnen mindestens fünf Jahre Ihres Lebens!
)und trenne mit den Fingern ein Stückchen ab. Als ich zum Fenster unserer Essecke hinaus in den Garten sehe, habe ich das Gefühl, die Welt wäre eingefroren. Eiszapfen hängen wie Kerzen vom Dach; die Äste der Bäume biegen sich unter der schweren Last. Der Garten meiner Mutter, der lange von Unkraut und totem Gestrüpp überwuchert war, liegt unter einer Schneedecke.
Mein Vater setzt sich schwerfällig auf den Stuhl neben mir und klappert mit seinem Teller. Er hat den Blick ebenfalls nach draußen gewandt, und ich frage mich, ob er auch an sie denkt, an ihren Garten, an all die Freude, aber auch den Betrug, so wie ich.
«Ich habe sie getroffen», sage ich plötzlich. «Ich habe Mom getroffen. Vor einer Weile.»
Er kaut langsamer, als würde er mehr verdauen als nur sein Frühstück. In der morgendlichen Stille kann ich ihn schlucken hören. Ein einsames Rotkehlchen landet im Garten.
«Ich freue mich für dich», erklärt er schließlich und räuspert sich. «Wenn es das ist, was du willst.»
«Es ist kompliziert …» Ich zucke die Achseln, dann platzt es aus mir heraus: «Ich habe eine Schwester.»
Ich hätte erwartet, dass er zusammenzuckt. Stattdessen nickt er nur. «Ich weiß.»
«Was meinst du damit?» Ich drehe ihm den Kopf zu.
«Ich bin …» Er zögert und senkt den Blick. «Nun, ich habe gelegentlich Kontakt zu deiner Mutter.»
«Was?» Meine Überraschung lodert auf wie ein Feuerwerk. «Wieso? Und warum hast du mir nie was davon erzählt?»
«Oh, Jilly.» Mein Vater seufzt. «Du warst immer so …»Er sucht nach den richtigen Worten. «So stur, so verbittert. Ach, ich weiß es nicht … Aber ich wollte nicht, dass du ihretwegen und wegen der ganzen Situation … also, ich wollte nicht, dass du böse auf mich bist, weil ich ihr verziehen habe. Es erschien mir … Es kam mir einfacher vor, es dir selbst zu überlassen, ob und wann du mit ihr ins Reine kommen willst oder kannst.»
Ich sehe wieder raus in den Garten. Das Rotkehlchen ist verschwunden, so schnell wie es gekommen war. Ich stopfe mir einen Bissen Pfannkuchen in den Mund und versuche zu hören, wirklich zu
hören
, was mein Vater da sagt.
«Wieso?», frage ich, als ich endlich heruntergeschluckt habe. «Ich meine, was ist mit deiner Wut? Wieso hast du dich entschlossen, loszulassen?»
«Ich weiß nicht, ob es einen bestimmten Grund dafür gibt», sagt er. «Na ja, Ehen sind ziemlich kompliziert, weißt du.» Er beißt sich auf die Lippe. «Aber mir ist irgendwann klargeworden, dass sie zwar diejenige war, die gegangen ist, aber ich derjenige war, der vielleicht nicht genug getan hat, um sie zu halten.»
«Das ist doch lächerlich!», rufe ich und massiere mir die Schläfen. «Du warst ein wunderbarer Ehemann.»
«Ja, manchmal», gibt er zu bedenken. «Aber ich bin mir da für die restliche Zeit nicht so sicher.» Er hebt schwach die Schultern.
«Das ist wirklich lächerlich!», wiederhole ich. «
Sie
ist diejenige, die gegangen ist.
Sie
hat die Entscheidung getroffen, die unsere Familie zerstört hat!»
Das Gesicht meines Vaters bebt, als hätte ich ihn geschlagen. «Sie hat uns nicht zerstört», sagt er sanft. «Und es tut mir furchtbar leid, dass du das so
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