Gestern fängt das Leben an
Gespräch mit meinem Vater noch einmal durch den Kopf gehen und denke über mein altes Leben mit Henry nach. Vielleicht haben wir beide auf unsere Weise versagt und uns gegenseitig im Stich gelassen.
Zum Beispiel erinnere ich mich an eine Begebenheit,als Henry in der Firma zum Partner ernannt wurde. Er rief mich aus dem Büro an, um mir die Neuigkeiten mitzuteilen. Ich war im achten Monat schwanger, langweilte mich schon jetzt zu Tode und saß mit hochgelegten Beinen auf der Couch, um irgendeine Nachmittags-Soap zu sehen. Auf dem Boden neben mir lag ein Riesenstapel Elternzeitschriften.
«Das bedeutet jede Menge mehr Arbeit, Jillian», warnte er mich. «Und ehe ich zusage, möchte ich wirklich sicher sein, dass du einverstanden bist.»
«Natürlich!» Ich quiekte förmlich. «Es ist unglaublich, und ich bin furchtbar stolz auf dich.» Und das war ich auch.
«Bist du dir sicher?», beharrte er. «Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, dass ich in Zukunft sehr viel unterwegs sein werde. Sehr viel.»
«Ja», wiederholte ich, ohne wirklich die Bedeutung dessen, was er sagte, zu verstehen. «Ich bin mir ganz sicher.»
«Gut», sagte er, und ich konnte ihn am Telefon förmlich lächeln hören. «Ich habe nämlich schon zugesagt!»
Später, Monate später, als seine ständige Reiserei ihn zusehends von mir und seiner Familie entfernte und mein Groll langsam zu köcheln begann, dachte ich noch einmal über dieses Gespräch nach. Im Grunde hatten wir uns am Telefon gegenseitig betrogen: Ich ihn, indem ich so tat, als hätte ich alles, was ich brauchte; und er mich, indem er einfach voraussetzte, dass er wusste, was ich brauche, ohne auch nur die geringste Ahnung von meinen wirklichen Bedürfnissen zu haben.
Aber wieso habe ich dann damals nicht einfach etwas gesagt
?
, frage ich mich jetzt, während ich keuchend die Straße hochstapfe. Diesen Hügel sind Andy und ich früher immer in fröhlicher Selbstvergessenheit mit den Rädern hinuntergesaust.
Wieso habe ich nicht einfach gesagt: «Ich brauche dich hier. Sei für mich da. Gib mir, was ich brauche.» Wieso war ich unfähig, etwas derart Einfaches auszusprechen? Denn vielleicht hätte er mir zugehört; und vielleicht hätte auch ich dann anfangen können, ihm zuzuhören.
Während ich darüber nachdenke, was für einen riesigen Unterschied diese winzige Verschiebung in meiner Ehe mit Henry vielleicht bedeutet hätte, spüre ich, wie sich trotz der eisigen Temperaturen unter meinem Hosenbund der Schweiß sammelt.
Schließlich rufen meine Oberschenkel vernehmlich um Gnade, und ich laufe zurück zum Haus, wo es nach Kürbiskuchen und Muskat duftet. Ohne groß darüber nachzudenken, eile ich die Treppe hinauf in mein altes Kinderzimmer, krame in der Handtasche nach meiner Brieftasche und ziehe Henrys Visitenkarte hervor.
Auf der Rückseite hat er seine Handynummer notiert, und ehe ich es mir anders überlegen kann, tippe ich die Nummer in das rosarote Mädchentelefon, das zur Tapete und zum Bettbezug meines alten Zimmers passt.
Henry geht nicht dran. Stattdessen werde ich zur Mailbox weitergeleitet. Seine Ansage klingt so vertraut wie immer. Es ist, mutmaße ich, während ich mich auf die mit Erdbeeren besprenkelte Tagesdecke lege, der gleiche Text, den er auch heute noch hat. Also, den er in Zukunft immer noch haben wird, meine ich. Inzwischen gerät alles durcheinander.
«Äh, Henry? Hier spricht Jill … Also, Jillian Westfield, meine ich.»
Wie bescheuert bin ich eigentlich? ,
denke ichund rolle mich auf den Bauch. «Äh, also irgendwie musste ich gerade an dich denken. Und, also … äh, ich wollte dir nur frohe Weihnachten wünschen.»
Nein! Wolltest du nicht! Du wolltest viel mehr sagen.
«Okay. Ciao!»
Ich lege auf und bleibe ganz still liegen. Nur mein Arm streicht gedankenverloren über die Decke, bis er meinen alten, zerrupften Stoffhasen zu fassen bekommt, mit dem ich seit dem vierten Lebensjahr das Bett geteilt habe. Plötzlich reiße ich mit einer verzweifelten Bewegung noch einmal den Hörer von der Gabel, wähle wieder Henrys Nummer und drücke mir den Hörer so fest ans Ohr, dass ich es in der Leitung knacksen höre, als die Verbindung steht.
«Henry? Hallo, ich bin’s nochmal! Äh, Jillian. Also, wahrscheinlich hältst du mich jetzt für komplett verrückt, aber ich habe nochmal nachgedacht, und ich wollte fragen, ob du Lust hast, mit mir mal einen Kaffee trinken zu gehen.» Ich zögere und atme einmal tief durch. «Ähm, natürlich nicht
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