Gestern fängt das Leben an
besonders perfide Phantasie.
Aber als dann mein Handy zum zweiten Mal klingelt und Jack mir die Zwangsverlängerung seines Urlaubs bestätigt, sehe ich mich mit wachen Augen um. Und mirwird klar, dass dieses Leben und diese Zeit womöglich endgültig sind.
***
Keine Ahnung, wie die Postboten es hinkriegen, jedenfalls schafft es die Post heute tatsächlich, durch diesen, wie er im Fernsehen inzwischen genannt wird, «Jahrhundertsturm» zu kämpfen und die Briefe auszufahren.
Der Hausmeister meines Gebäudes wirft mir die Post im Vorbeigehen auf die Türmatte, wo sie mit dumpfem Schlag landet.
Da ich die letzten zwanzig Minuten damit verbracht habe, mir die Fingernägel zartrosa zu lackieren, drehe ich mit beiden Händen den Türknauf vorsichtig um und schiebe die Post mit dem Fuß in die Wohnung. Anschließend wedle ich noch einige Minuten mit den Händen in der Luft rum und komme mir dabei vor wie ein Huhn, das aufgeregt mit den Flügeln schlägt. Als mir der Lack bombenfest vorkommt, hebe ich den Stapel auf und sehe ihn durch. Das meiste davon ist Werbung von Firmen, die mir hochwertige Hundebetten (Sonderangebot!), Christbaumschmuck (Schlussverkauf!) und besonders günstige lange Unterhosen (Schnäppchen!) verkaufen wollen.
Ich pflücke den einzigen Brief heraus und reiße den Umschlag auf. Darin steckt eine ungewöhnliche Weihnachtskarte: von Hand ausgeschnittene Schneeflocken und silbriger Flitter schmücken die Vorderseite, und als ich die Karte aufmache, bleibt ein bisschen Glitzer an meinen Fingern kleben.
«
Für Jillian
», steht da in der bauchigen Schrift eines Kindes.
«Frohes neues Jahr!! Ich hoffe, deine Wünsche gehen in Erfüllung!!! Viel Liebe, deine Schwester Izzy.»
Darunter hat meine Mutter geschrieben: «
Vielen Dank für deinen Brief. Es genügt mir zu wissen, dass du da bist. Und ich hoffe, du bist nicht böse wegen der Karte. Sie wollte dir unbedingt schreiben.»
Ich starre die Karte so lange an, bis Schneeflocken und Schrift und Glitzer sich vermengen und eine einzige Mischung aus Licht und Farbe werden. Erst als ich mir die Tränen wegwische und tief Luft hole, kann ich die Umrisse der Karte wieder erkennen.
Wohin mit ihr
?
, denke ich irritiert.
Was mache ich jetzt mit dieser Karte?
In meiner Verunsicherung gehe ich ins Schlafzimmer und verstecke die Karte in meiner Sockenschublade, weil ich nicht weiß, wo sie sonst hingehören könnte.
***
Mein neues Kleid hängt am Schrank und schreit förmlich danach, getragen zu werden, aber in so einem Aufzug durch kniehohen Schnee zu waten, überlebt man schlicht nicht. Das Wetter macht sich lustig über mich.
Abgesehen davon
, ermahne ich mich, während ich mich durch meinen Kleiderschrank wühle,
bist du heute Abend nicht auf Männerfang. Dieser Abend ist ein Wir-sind-gute-Freunde-Abend. Und für seine Freunde zieht man nun mal kein aufreizendes kleines Schwarzes an.
Also entscheide ich mich für einen schwarzen Pullover mit V-Ausschnitt und Jeans. Das ist unverfänglich und neutral genug.
Während ich den Lidstrich ziehe, mir die Wimpern tusche und etwas Rouge auflege, sehe ich mich im Spiegel an und rede mir ein, dass ich nicht nervös bin. Doch meine verschwitzen Hände und die feuchten Achselhöhlen strafen mich Lügen. Schnell trage ich noch eine Extraschicht Deo auf, als könnte ich damit gleichzeitig auch die Schmetterlinge in meinem Bauch beruhigen.
Als ich mich auf den Weg mache, hat es endlich aufgehört zu schneien. Doch die Auswirkungen des Schneesturms sind beträchtlich: Die Autos am Straßenrand sehen wie unförmige Iglus aus; Ladenbesitzer und Hausmeister mühen sich dick vermummt und im Grunde vergebens, die Gehwege wieder frei zu machen. Auf den Straßen fahren weder Autos noch Busse noch Taxis, und die wenigen Fußgänger, die unterwegs sind, kämpfen sich schlitternd die Straße entlang. Über der Stadt liegt die friedliche Stille frischgefallenen Schnees.
Henry wohnt nur acht Blocks entfernt, aber heute Abend brauche ich für die kurze Strecke fast eine halbe Stunde. In jedem Fall komme ich zu spät.
Schwitzend erreiche ich schließlich das Haus, in dem er wohnt. Dem eisigen Wind und dem Schnee zu trotzen, war anstrengender, als ich gedacht hatte. Ich hole noch einmal tief Luft und klingle am Eingang zu dem Hinterhof dieses unscheinbaren Sandsteingebäudes. Alles kommt mir merkwürdig bekannt vor.
Der Summer ertönt, und die Tür springt auf. Als ich die Eingangshalle betrete, wird mir schwindlig, so
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