Gestern fängt das Leben an
stark ist die Déjà-vu-Empfindung. Der Geruch – ein Hauch Moder, gemischt mit Allzweckreiniger – ist mir fürchterlich vertraut. Einen Moment lang verliere ich das Gleichgewicht undmuss mich an der gefliesten Wand festhalten. Dann vergeht das Schwindelgefühl, nur die Verwirrung bleibt.
Ich schleppe mich die knarrenden Stufen hinauf in den zweiten Stock zu seiner Wohnung. Ehe ich klopfen kann, öffnet Henry die Tür.
«Hey! Komm rein», sagt er und macht eine einladende Bewegung.
«Tut mir leid, dass ich mich verspätet habe», erwidere ich bemüht lässig, obwohl mein Innerstes Purzelbäume schlägt.
«Solange die Lichtkugel noch nicht unten ist, bist du rechtzeitig.» Er lacht nervös und streicht sich die Haare aus der Stirn. Eine Strähne rutscht sofort wieder zurück, so wie immer. «Du siehst durchgefroren aus, Jillian. Was hättest du gerne zu trinken? Es gibt Wein, Bier, Wasser, Eggnog …»
Irgendwie höre ich ihm gar nicht richtig zu. Im Flur erhasche ich einen Blick auf mein Spiegelbild und erschrecke: Meine Nase leuchtet knallrot, die Haare sind stumpf und liegen nass am Kopf. Als ich mir zu allem Überfluss auch noch den feuchten Film von der Oberlippe wischen muss, laufen auch meine Ohren noch rot an.
Wir sind nur Freunde
!
, sage ich mir.
Außerdem mochte Henry dich sowieso lieber perfekt gestylt, adrett und ordentlich. Du hast am heutigen Abend also nicht viel zu gewinnen – oder zu verlieren.
«Wow, du hast sogar Eggnog!», sage ich und schäle mich aus dem Mantel. Henry hängt ihn an den Türknauf, und ich atme tief durch.
Entspann dich!
, denke ich,
entspann dich einfach, verdammt nochmal!
Dann folge ich ihm ins Wohnzimmer. «Du hast dir ja wirklich alle Mühe gegeben!»
«Okay, ich gebe zu», sagt er und hebt die Hände hoch wie ein auf frischer Tat ertappter Bankräuber, «ich bin nach unserem Telefonat schnell nochmal runter in den Supermarkt gelaufen und habe den Laden leergekauft.» Er lacht. «Ich hatte ja nichts im Haus. Und … Also, dies wird definitiv kein Feinschmeckerabend, aber –» Er hält inne und mustert mich forschend. «Du siehst toll aus.»
«Äh, ich nehme ein Glas Eggnog», gehe ich leichthin über das Kompliment hinweg.
Aber das ist doch gar nicht dein Stil!
, denke ich. «Supermarkt hin oder her.»
Er nickt und geht die Getränke holen. Ich beobachte ihn einen Augenblick lang, wie er in seiner winzigen Einbauküche steht, barfuß, in zerschlissener Jeans und einem alten dunkelblauen Strickpullover, und nehme dann wieder das Wohnzimmer in Augenschein. Es wirkt spärlicher möbliert als in meiner Erinnerung. Hier stehen eine schwarze Ledercouch und ein übergroßer Fernseher, der ohne Ton läuft. Davor liegt ein mir ebenfalls gutbekannter beigefarbener Vorleger, dessen winziges Schleifenmuster man nur sieht, wenn man auf dem Boden sitzt. Die Rückseite des Raums wird von eingebauten, honigfarbenen Bücherregalen bestimmt, vollgestopft bis obenhin. Das meiste davon sind Autobiographien berühmter Forscher und Wissenschaftler oder Politiker. Überhaupt liest Henry am liebsten Bücher, die sich mit Naturwissenschaften, Medizin oder der Welt im Allgemeinen auseinandersetzen. Vor dem Wohnzimmerfenster steht sein leergeräumter Holzschreibtisch. Keine Bilderrahmen, keine Poststapel, nur der Computer.
Ob ich deshalb so ordentlich geworden bin?,
frage ich mich.
Bin ich deshalb ständig durchs Haus gerast, um dafür
zu sorgen, dass auch ja alles an seinem Platz steht? Damit für ihn immer alles so war wie gewohnt?
Ich drehe an meinem Verlobungsring herum und denke an meinen Putzfimmel und daran, wie entschlossen ich war, uns ein Heim wie aus dem Hochglanzmagazin zu schaffen.
Nein,
widerspreche ich mir.
Henry war nicht der Grund, weshalb du so geworden bist. So einfach ist es nicht. Aber es kann sein, dass du dich damals vor allem zu seinem ausgeprägten Ordnungssinn hingezogen gefühlt hast.
Letztlich wollte ich das Chaos in
meinem
alten Kleiderschrank, auf
meinem
Schreibtisch, im Grunde in
meinem
gesamten alten Leben in den Griff bekommen.
Henry stupst mich von hinten an. «Ihr Drink, Ma’am.»
Ich drehe mich um, nehme ihm den dampfenden Eierpunsch ab und lächle.
«Lass uns anstoßen», sagt er und erhebt seine Flasche Amstel.
«Worauf?», frage ich und erhebe ebenfalls das Glas.
«Auf …» Er denkt nach. «Auf das Leben. Auf die Zeit, auf 2001. Auf den Weg, der uns hierhergeführt hat, und auf die Orte, an die er uns noch führen
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