Gestern fängt das Leben an
wird.»
Mir steigen Tränen in die Augen, aber ich blinzle sie weg, ehe er etwas merken kann.
«Ja, darauf trinke ich gerne», sage ich und nehme einen Schluck von dem ziemlich guten Eggnog. Und ich frage mich, ob er meinem selbstgemachten Punsch das Wasser reichen kann, den ich immer für die diversen Weihnachtsfeiern in unserer Nachbarschaft fabriziert habe.
«Also, was ist mit deiner Mutter?», fragt Henry und macht es sich auf dem Sofa bequem.
«Die interessantere Frage lautet: Was ist mit meinem Vater», antworte ich und setze mich zu ihm. «Wie sich nämlich herausstellt, hat er ihr schon vor langer Zeit verziehen.» Ich zucke die Achseln. «Aber vielleicht sagt er mir das auch nur, weil er glaubt, dass er an der ganzen Sache eine Mitschuld trägt.»
«Wahrscheinlich», erwidert Henry schlicht. «Wo eine Wirkung ist, gibt es meistens auch eine Ursache.»
«Sagt dein Professorenvater?», frage ich grinsend.
«Sagt er.» Henry lächelt zurück. «Aber meistens stimmt es doch auch. Das jedenfalls finde ich an Beziehungen immer am schwierigsten. Wie …» Er nimmt einen Schluck Bier und sucht nach den passenden Worten. «Wie hart es sein kann, sich zu ändern, um sich an den anderen anzupassen. Einer muss sich meist mehr ändern als der andere. Und dann verschlimmern sich Ursache und Wirkung gegenseitig.» Er macht eine abfällige Handbewegung. «Ach, es ist nie leicht. Zumindest für mich nicht.»
«Für mich auch nicht», seufze ich und frage mich, weshalb Henry und ich noch nie so offen miteinander gesprochen haben. Oder haben wir das damals, in der aufregenden Anfangsphase unserer Beziehung, getan? Aber wie hätte ich dann ein derartiges Gespräch vergessen können?
«Aber du heiratest deinen Jack», führt Henry jetzt ins Feld. «Also muss es mit ihm anders sein.»
«Ja, äh, das ist es auch», antworte ich, aber die Worte sind weder besonders energisch noch sind sie ehrlich. Ich überlege, in welchem Maß ich mich für die Hochzeitsvorbereitungen verbogen habe. Habe ich mich bereits in die perfekt auf Jacks Ansprüche zurechtgefeilte Version meiner selbst verwandelt?
Genau wie vor kurzem in Vivians Bad, als ich angesichts des Bildes meines künftigen Ichs zusammenbrach, wird mir auch jetzt wieder klar, dass es im Grunde keinen Unterschied zu dem gibt, was ich während meiner Ehe mit Henry getan habe. Aber wenn das Problem nicht bei Jack oder Henry liegt – der Gedanke trifft mich hart –, dann liegt es bei mir. Und dann ist diese Zeitreise, diese ganze, verdammte zweite Chance völlig belanglos und unbedeutend, weil es nicht meine
Geschichte
ist, die sich ändern muss. Sondern ich selbst!
«Oh, das hätte ich fast vergessen!», ruft Henry und unterbricht damit das bedeutungsvolle Schweigen zwischen uns. «Die Nachspeise!»
Er springt auf und reißt die düstere Erkenntnis mit sich, die mir gerade ins Bewusstsein gesickert ist. Aus der Küche ist lautes Knistern zu hören, und eine Minute später ist Henry mit einem Teller zurück, auf dem sich gepuderte Doughnuts, leuchtend pink gefärbte Kokosbälle, ein Riegel Twix und ein Berg Skittles türmen.
«Nett», kichere ich. «Das ist absolut Haute Cuisine!»
«Nur das Beste für die Gäste im
Café Henry
!», erklärt er, nimmt ein Dessertmesser zur Hand und schneidet formvollendet ein Stück Twix ab, das er sich in den Mund wirft. Dann reicht er mir den Teller, setzt sich neben mich und nimmt die Fernbedienung zur Hand.
Ich beiße in einen Kokosball, ohne mich um die unnatürliche Färbung zu scheren, und drücke die zuckersüße Kokosmasse gegen meinen Gaumen, bis sie sich auflöst und mir die künstlichen Aromen und der Zucker die Kehle hinunterrinnen.
Henry gibt den Bildern vom Times Square ihren Ton zurück.«Ich weiß, dass es komisch ist», sagt er und deutet auf den Fernseher, «aber ich liebe die Silvesterparty am Times Square. Diese ganze Show. Die verrückten Touristen, das Konfetti, die Lichter.» Er seufzt und nimmt sich ein Twinkie. «Ich glaube, ich habe es seit meiner Kindheit nicht ein einziges Mal verpasst.»
Aus den Augenwinkeln beobachte ich, wie er fasziniert das Spektakel im Fernsehen verfolgt. Seine gerade Nase, seine helle Haut und die vollen Lippen; all das erinnert mich so sehr an unsere Tochter, das kleine Mädchen, das noch nicht mal ein Schimmer am Horizont seiner Gedanken ist.
Wie auch? Woher soll er wissen, was die Zukunft bringen kann?
Aber im Grunde habe ich mich selbst inzwischen so im Irrgarten
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