Gestern fängt das Leben an
ich dich enttäuscht habe.»
«Nein, nein!» Ich versuche, meine Gedanken zu sammeln. «Ich … äh, ich dachte nur, es wäre jemand anders dran.»
«Offensichtlich», sagt er trocken, aber trotzdem gut gelaunt.
Eine verlegene Pause entsteht.
«Tja also, tut mir leid, dass ich jetzt erst zurückrufe, aber ich war in Vail.»
Ach, und in Vail gibt es wohl kein Handynetz, wie? ,
denke ich und tadle mich stumm, weil ich mich anhöre wie eine eifersüchtige Freundin.
«Macht nichts», antworte ich. «Ich wollte dir ja sowieso nur frohe Weihnachten wünschen.»
«Nein, im Ernst. Ich hatte mein Handy zu Hause vergessen und bin erst gestern Abend zurückgekommen.»
«Vor dem Sturm also», sage ich, obwohl es offensichtlich ist.
«O ja! Diejenigen, die heute in die Stadt kommen wollen, sind ziemlich gelackmeiert.»
Ich höre, wie er die Kühlschranktür öffnet und einen Schluck trinkt. Orangensaft, vermute ich, wahrscheinlich direkt aus der Packung. Das hat er nämlich immer getan, obwohl ich ihn unzählige Male darum gebeten hatte, ein Glas zu benutzen. Und wenn er eins benutzte, dieses auch in die verdammte Spülmaschine zu stellen und nicht achtlos auf der Anrichte stehen zu lassen, bis
ich
es wegräumen würde! Als wir zusammenzogen, machte ich am Anfang noch meine Bemerkungen dazu: «Könntest du bitte das Glas wegräumen, Henry?» oder: «Ich finde es einfach unhygienisch, wenn du direkt aus der Packung trinkst.» Aber die Angewohnheit war viel zu tief verwurzelt. Also hörte ich irgendwann auf, ihn zu bitten und knallte seine Gläser stumm in die Spülmaschine, obwohl ich sie eigentlich viel lieber an die Wand geworfen hätte.
«Ist ja auch egal, Jillian. Jetzt habe ich dich ja endlich an der Strippe. Ich wollte fragen, ob du heute Abend schon was vorhast», fragt Henry und nimmt noch einen Schluck.
Eindeutig direkt aus der Packung! ,
denke ich, aber jetzt kommt es mir irgendwie lustig vor. Wie in einem albernen Comic, in dem eine Maus immer wieder an den Käse geht und sich dabei jedes Mal den Schwanz in der Mausefalle einzwickt.
Ich schüttle den Kopf, weil ich bei der Vorstellung zu grinsen anfange. «Äh, also, wir haben Pläne. Jack und ich. Das heißt, noch ist er auf dem Rückweg aus Antigua und –» Mein Blick fällt auf den Fernseher. Die roten Bänder laufen immer noch durch.
«Ich fürchte, heute ist kein Durchkommen mehr», wirft Henry ein.
«Tja, ich glaub’s ja auch nicht», sage ich und spüre förmlich, wie mein Blut schneller fließt. Auf einen Schlag bin ich furchtbar nervös.
«Darf ich einen Vorschlag machen? Du hast in deiner Nachricht was von Kaffee gesagt. Komm doch zu Kaffee und Nachtisch zu mir. Und dann sehen wir weiter. Wir könnten es uns vor dem Fernseher gemütlich machen und uns die Silvesterparty am Times Square anschauen.»
Trotz meiner Nervosität schnaube ich verächtlich. Ich weiß, Henry liebt das dämliche Spektakel mit der leuchtenden Lichterkugel. Auch wenn er gerade versucht, lässig zu wirken, hängt er an dieser kitschigen Tradition zu Silvester. Wir haben tatsächlich jeden einzelnen Silvesterabend unserer Ehe damit verbracht, das neue Jahr vor dem Fernseher zu begrüßen und dabei zuzusehen, wie sich amTimes Square die Glitzerkugel auf Horden von Betrunkenen niedersenkt.
Plötzlich wird mir klar, dass Henry gerade versucht, mich zu beeindrucken, indem er so tut, als wäre er cool, als sei er gar nicht so sehr an der Kugel interessiert, und sich gleichzeitig sehnlichst wünscht, dass ich einverstanden bin.
Wir sind gar nicht so verschieden, du und ich
, denke ich.
Wir haben es beide in der Kunst, uns zu verstellen, zu wahren Meistern gebracht. Kein Wunder, dass wir am Ende implodiert sind.
«Und was ist mit Celeste?», frage ich. «Macht ihr das nichts aus?»
«Oh, sie ist in Florida», sagt er, als würde das irgendwas erklären.
Ich antworte nicht gleich, sondern starre auf die Bilder vom Schneesturm und bemitleide die Menschen, die heute den Elementen trotzen müssen. Eins steht fest: Jack wird um Mitternacht auf keinen Fall an meiner Seite sein, um mit mir das Jahr 2001 zu begrüßen.
«Klar», höre ich mich jetzt sagen. «Gerne, also Nachtisch und Kaffee. Ich bin gegen neun bei dir, wenn du mir erklärst, wie ich zu dir komme.»
Wir beenden das Gespräch, und ich ziehe mir die Decke über den Kopf. Ich frage mich, wann ich endlich aufwache und feststelle, dass das alles hier nur ein verrückter Traum ist. Oder ein Albtraum. Oder eine
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