Gestern fängt das Leben an
von der Seite an. «Du hast einen tollen Typen, der Geld verdient und dir einen fetten Brilli an den Finger gesteckt hat und –» Sie verstummt, als bräuchte sie keine weiteren Argumente mehr.
«Du hast recht», sage ich. «Aber ich wette, es gab eine Zeit, da hatte Art auch ganz schön viele Pluspunkte, oder?»
Komisch
, denke ich,
dass einem das Leben der Anderen immer so wunderbar vollkommen erscheint.
Josies Blick verliert sich in der Ferne. Ich weiß nicht, ob sie versucht, sich zu erinnern, welche Pluspunkte das gewesen sein können oder ob sie merkt, wie sinnlos so eine Auflistung wäre.
Ehe sie antworten kann, klingelt mein Handy, und meine Hand schießt in die Tasche.
Henry? O bitte, lass es Henry sein!
Während Josie in Richtung Kundenschalter geht, presse ich mir das Telefon ans Ohr. In der Leitung kracht es nur.
«Hallo? Hallo?», frage ich mehrmals, bis ich ahne, dass Jack dran ist. Er hört sich an wie unter Wasser.
«Hey Süße! Endlich hab ich Empfang!», schreit er. Aber zwischen dem Ferienidyll Antigua und dem überfüllten Kaufhaus
Saks
herrscht Verzögerung. Eigentlich höre ich ihn nämlich nur bruchstückhaft.
«End … ich … Em … ang.» Es klingt wie eine Pidgin-Imitation für Karibiktouristen.
«He!», rufe ich, die Stimme drei Oktaven höher, und halte mir das freie Ohr zu.
«Ich hab nur eine Minute», sagt er.
Ab … ne … inute.
«Ich habe mit Mom gesprochen, und sie will in ein paar Wochen eine Verlobungsparty für uns schmeißen. Ist das okay?»
As … kay?
Unschlüssig schlendere ich in die Schuhabteilung, lasse mich auf eine Lederbank plumpsen und starre mein Spiegelbild an. Ist das wirklich okay? Glanz und Gloria für Vivians Freunde? Küsschen hier, Küsschen da? Sie wird mit ihrem schicken Hermès-Schal um uns herumscharwenzeln und Häppchen vom Partyservice reichen. Und ich werde mich dabei nur an mein altes Westchester-Ich erinnert fühlen … Ist es tatsächlich nötig, aus unseren Heiratsabsichten ein öffentliches Spektakel zu machen? Als sei eine Hochzeitsfeier für vierhundert Gäste nicht schon genug …
«Äh, nein», sage ich leise, aber bestimmt, sodass es mir selbst fremd in den Ohren klingt. Ein winziger Tropfen Schweiß rinnt mir den Hals hinunter. «Nein, Jack. Das ist nicht okay.»
«Ich verstehe dich nicht», schreit Jack. In der Leitung kracht es erneut laut. «Also, ist es okay?»
«Nein!», rufe ich so laut, dass sich drei Kundinnen zu mirumdrehen. «Das möchte ich nicht.» Mein Selbstvertrauen gibt Gas wie ein aufheulender Motor. «Bitte richte deiner Mutter aus, dass ich das nicht möchte!»
Aber die Verbindung ist bereits unterbrochen. Ich spreche zu meinem Verlobten in ein schwarzes Loch, in luftleeren Raum. Hypnotisierend starre ich mein Handy an.
Bitte, lass ihn nochmal anrufen! ,
flehe ich.
Aber es ruft niemand an. Weder Jack noch Henry.
Irgendwann winkt Josie mir vom Kundenschalter aus zu. Sie hat die meisten Sachen doch nicht umtauschen können. Also schieben wir uns durch das Kaufhaus zurück ins Freie und schlurfen dann wieder in die Agentur.
Mit hängenden Schultern können wir nur darauf warten, dass die kalte Brise den Wind der Veränderung in unsere Richtung lenkt.
HENRY
Was mir von Henry am besten in Erinnerung ist, ist die Leichtigkeit, mit der er sich durchs Leben bewegte. Manchmal beobachtete ich ihn heimlich, wenn er in Boxershorts vor dem Spiegel stand und sich rasierte oder mit Katie auf dem Wohnzimmerteppich spielte. Ich wünschte, ich könnte mir wenigstens eine kleine Scheibe von seiner Zuversicht abschneiden. Es war, als hätte er einfach beschlossen, dass sein Leben unbeschwert gelingen müsse. Vielleicht, weil für ihn die Welt mit beinahe mathematischer Logik funktionierte. Deswegen gab es keinen Grund für unnötige Sorgen oder Zweifel. Es war alles gut.
Ich weiß nicht, ob Henry klar war, wie weit wir uns voneinander entfernt hatten. Vielleicht kannte ich es einfach
nicht anders. Vielleicht konnte ich, genau wie meine Mutter, nur weglaufen, anstatt mich mit ihm zusammen in den Fuchsbau zu verkriechen und abzuwarten, bis der Sturm vorüber war.
Zwei Wochen, bevor ich mich in meinem alten Leben wiederfand, schlich Henry in der Küche um mich herum. Katie schlief, und anstatt mich zu meinem Mann ins Wohnzimmer zu setzen, wischte ich die Schränke. Ich weiß nicht mehr, warum es unbedingt hatte sein müssen. Ich weiß nur noch, dass es mir einfacher erschien, die Küche zu
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