Gestern fängt das Leben an
verlaufen zwischen dem, was in der Vergangenheit geschehen ist und was in der Zukunft bereits passiert war, dass auch ich unmöglich wissen kann, was die Zukunft bringt.
Während ich ihn also möglichst unauffällig ansehe, sehne ich mich schmerzlich – ein wortwörtlich körperlich spürbarer Schmerz – nach der süßen Nase meiner Tochter, nach ihrer weichen Haut und ihren vollen Lippen. Ich muss mich zusammenreißen, um nicht einfach die Hand auszustrecken und mit dem Finger über sein Gesicht zu streicheln bis hinunter zu seinen Lippen. Das könnte mich ohnehin nicht mit Katie verbinden. Und es könnte sie mir auch nicht zurückbringen.
Trotz aller Bemühungen scheint Henry meinen Blick auf sich zu spüren, denn plötzlich dreht er mir den Kopf zu.
«Alles okay?», fragt er.
«Äh … Ja, ja, klar. Mir geht’s gut.» Ich winke ab und beugemich zu dem Teller Süßigkeiten vor, aber meine feuchten Augen verraten mich.
«Nein», sagt er bestimmt. «Tut es offensichtlich nicht, Jillian.»
Erschrocken sehe ich ihn an – einen Moment zu lange. Jetzt erinnere ich mich wieder. Jetzt weiß ich wieder, dass zwischen ihm und mir nicht schon immer alles kaputt war. Nein, es gab eine Zeit, als wir einander unser wahres Gesicht gezeigt haben. Als wir noch nicht so viel Anstrengung darauf verwendeten, uns für den anderen zu verstellen. Es war nicht so, dass wir nie gehabt hätten, was wir brauchten, wir haben es nur einfach beide versickern lassen.
Aber all das kann ich Henry heute Abend natürlich unmöglich erklären. Ich weiß, dass er gerne wissen würde, weshalb ich so seltsam bedrückt bin. Nur ist die Erklärung so haarsträubend, dass ich es sogar mit dem veränderten Blick auf den Ehemann meiner ehemaligen Zukunft nicht fertigbringe, mich zu offenbaren.
Also entschuldige ich mich stattdessen ins Bad.
Kurz vor Mitternacht senkt sich die riesige Glitzerkugel langsam nieder, die Menge am Times Square zählt enthusiastisch mit. Durch die eisige Winterluft, ohne Schnee jetzt, wirbeln riesige Konfettiwolken.
Henry sieht mich strahlend an, aufgeregt wie ein kleiner Junge, und auch mich ergreift die Stimmung des Moments. Meine Augen werden groß und mein Lächeln breit. Gemeinsam mit der Masse zählen wir mit.
Als nur noch fünf Sekunden bleiben, sieht er zu mir herüber, und weil ich ihn so gut kenne, weiß ich, was er denkt. Er schiebt sich eine Strähne aus dem Gesicht und überlegt, ob er näher rücken soll. Aber dann sind wir bei
drei
, unddann bei
zwei
, und dann schließlich bei
eins …
Und wir sehen uns immer noch an, und jeder wünscht sich, dass der andere sich endlich bewegen möge.
Doch dann ist der Augenblick vorübergezogen, direkt vor unseren Augen. Henry zwinkert mir zu, küsst mich auf die Wange und flüstert «Frohes neues Jahr, Jilly», so wie er es die nächsten sechs Jahre auch getan hatte.
Später besteht er darauf, mich nach Hause zu bringen.
Wir stapfen durch den tiefen Schnee, vorbei an ausgelassenen Menschen, die trotz der Kälte in Horden betrunken durch die Straßen ziehen. Mir friert draußen fast das Gesicht ein. Aber als Henry mich sicher zu Hause abgeliefert hat und ich in die warme Eingangshalle trete, spüre ich auf meinen taubgefrorenen Wangen einen winzigen, warm glühenden Fleck. Es ist die Stelle, auf die er mich geküsst hat – und dieser Fleck reicht aus, um mich von innen zu wärmen.
***
Als ich am nächsten Morgen aufwache, habe ich eine Nachricht von Jack auf dem Anrufbeantworter. In zwei Tagen ist er zurück, und frohes neues Jahr, und wo ich eigentlich stecke …
Ich werfe einen Blick zum Fenster hinaus. Die Sonne scheint stark und hell, und der Schnee fängt an zu schmelzen. Auf der Straße bilden sich bereits matschige Pfützen.
Ich gehe ins Ankleidezimmer und ziehe aus einem Impuls heraus die Sockenschublade auf. Vor mir liegt Izzys Karte. Ich krame in der Küchenschublade, bis ich endlich eine Rolle Tesafilm gefunden habe. Dann klebe ich dieKarte an den Kühlschrank, als ständige Erinnerung an ein neunjähriges Mädchen, das noch nicht auf die Idee gekommen ist, ihr wahres Gesicht zu verbergen.
Mit einer Tasse Kaffee setze ich mich schließlich auf den Küchenboden und betrachte Izzys Karte, die schiefen Schneeflocken und die großen Glitzerkleckse.
So sollte das Leben sein
, denke ich,
glänzend und unvollkommen und trotz seiner Makel voller Versprechen für die Zukunft. Oder zumindest für das neue Jahr, das vor uns liegt.
Wie konnte mir
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