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Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen

Titel: Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mairisch
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verschwunden und durch einen neuen ersetzt worden.
     
    Einmal bin ich mitten in der Nacht aufgewacht, weil sie im Schlaf gewimmert und geweint hat. Ich habe sie nicht geweckt, nicht gestreichelt oder geküsst, habe ihr nur zugesehen. Es war gut, sie wieder weinen zu sehen, sie endlich weinen zu sehen. Ich hatte fast vergessen, wie Susan aussieht, wenn sie weint.
     
    Die Prothese heißt Sportfuß . Ich rühre sie nicht an.
    Es gefiel mir besser, als Susan sich auf dem Schreibtischstuhl durch die Wohnung bewegte. Wie sie sich mit ihrem einen Fuß von der Wand abstieß und über unser frisch verlegtes Parkett sauste. Ich mochte die Rillen im Boden und die Abdrücke an der Wand lieber als die feinen Kratzer, die die Sichel jetzt überall hinterlässt. Wie sie mit dem Stuhl über die Türschwellen rumpelte, klang nicht so streng wie das harte Taktak von Kohlefaser und Plastikholz.
    Ihr singendes Gurgeln aus dem Bad am Morgen, dass sie nicht aufhören kann zu lachen und zu plappern nach dem ersten Kaffee, die vielen ausgeschnittenen Artikel, die sie in der ganzen Wohnung verteilt wie eh und je, ihr lautes Lachen am Telefon, die Krümel im Bett, das Licht im Bad, das sie immer anlässt, ihr tänzelnd melodisches Zungeschnalzen, wenn sie wartet oder aufgeregt ist, ihr Magengrummeln bei Hunger, das so laut ist wie bei keinem anderen Menschen, den ich kenne. Das ist alles da, wieder und immer noch. Wie sie sich schminkt, wenn sie sich schminkt, als wäre Karneval. So habe ich mich verliebt, in ihr stolzes, amüsiertes Clownsgesicht, in diese Art, immer ein bisschen zu übertreiben, alles mit einem Lächeln sehen zu können. Und jetzt.
     
    Es ist nichts kaputt. Ich kann wichsen. Ich kann mich zwingen, dabei an Susan zu denken. Ich kann sogar, wenn die Erregung groß genug ist, Bilder und Szenen einbauen, in denen Susan den Stumpf statt des Beins hat. Vielleicht ist alles nur eine Frage der Zeit, der Gewöhnung.
     
    Ich möchte das Foto von ihr, das im Bad hängt, abnehmen. Ein Foto, bei dem alles stimmt, das Licht, die Farben, der Ausschnitt, vor allem sie und ihr Körper. Sie drückt mit dem Hintern die Tür zum Balkon auf, zwei Bier in den Händen, im Gesicht ein dreckiges Lachen mit offenem Mund. Sie ist gelb umrandet von der frühen Sonne. Balkonsaufen am Sonntagmorgen, Leute gucken, Kissen unterm Ellbogen. Eine Bluse, Wollsocken, Boxershorts und ihre glatten, weichen Buttermilchbeine mit den Sommersprossen. Ich will, aber ich traue mich nicht, das Foto abzunehmen und wenn ich im Bad bin, versuche ich stattdessen in der Raufasertapete Gesichter oder Muster zu finden.
    Ihr Körper ist nicht mehr der Körper, den ich noch im Balkonsommer unbedingt haben wollte. Ich will den neuen nicht. Ich will kein Mensch sein, der vor einer Behinderung flieht. Ich mag so einen Menschen nicht. Ich bin so ein Mensch. Ich wünschte, ich könnte den Gedanken irgendwo ablegen und vergessen. Es geht nicht. Ich schreibe ihn als Satz auf einen Zettel und verbrenne den Zettel. Kaum zu glauben, wie ich mir entgleite.
     
    Susan sitzt in der Mitte des Zimmers, das einmal unser Wohnzimmer war. Ich stehe und atme laut in meinen Joggingsachen, bin verschwitzt und sehe ihr zu. Sie hat den Verband abgenommen und cremt ihren Stumpf ein, in rhythmischen Kreisbewegungen reibt sie eine Salbe auf die jüngste Stelle Haut ihres Körpers. Selbstverständlich, gedankenverloren, logisch. Will ich in diesem Zimmer stehen, frage ich mich, will ich, dass das hier mein Leben ist.
    Sie sieht mich an, lächelt: »Wie gehts dir?«
    »Geht so«, sage ich.
     
    Ich frage mich, ob sie sich nicht weniger vorkommt. Und als ich ihr diese Frage stelle, nach Wochen, da sieht sie mich lange und ernst an, verzieht langsam den Mund zu einem Lächeln und fasst sich an die Stelle, an der ein Knie sein sollte und sagt: »Stimmt. Ein bisschen ja. Ich hab neun Pfund abgenommen.« Zeit der Witze. Ich nicke. Ich sage ihr nicht, dass sie nachts weint. Tagsüber, offenbar, geht es ihr blendend.
     
    Ihr Blick ist etwas krumm. Sie sieht auf den Marktplatz und trinkt. Ist schon ihr viertes oder fünftes Bier. Ihr Kohlefaserknie wippt zu einem Takt, der in Fetzen von der Wurstbude vor der Kirche zu uns rüberweht. Susan ist hineingewachsen in ihren fremden Körper. Früher habe ich diesen Körper vermisst, wenn ich ihn ein paar Tage nicht fühlen konnte. Jetzt ist mir jeder Abstand recht. Haut an Haut werden unsere Körper warm wie früher, aber von dieser Wärme ist nur die Temperatur

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