Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
hinterher, darüber ärgerte Schubert sich, über die Flüssigkeit und dass die Mülltonne von unten ganz dreckig war. Das interessiert ja keinen normalen Menschen, nicht mal, wenn der normale Mensch Müllmann ist, aber Schubert schüttelte enttäuscht den Kopf und machte ein Kreuz in sein Notizbuch. Schubert betreut die Tonnen, so sagt er das, er ist Dienstleister in der Abfallwirtschaft, nicht einfach Müllmann. Das glaubt er sich selbst und das belastet ihn, diese enorme Verantwortung, die er zu spüren glaubt. Es gibt Tage, da ist Schubert niedergeschlagen, traurig, enttäuscht, verzweifelt. Sooft ich mich über Schubert lustig mache, so wenig ich ihn leiden kann, er kann einem leidtun, wenn er vor mir sitzt und mit seinen ungeschickten Fingern und nassen Augen eine Scheiblette Scheiblettenschmelzkäse aus der Scheiblettenschmelzkäseverpackung popelt und nicht mehr reden kann, nur noch seufzen, weil es ihm zu nahgeht. Was? Die Verkommenheit der Menschen, die Sorglosigkeit, die Verantwortungslosigkeit. Das ist es, was ihm mein Mitleid einbringt: Schubert hat so wenig vom Leben, dass er seinen Weltschmerz von Mülltonnen fremder Menschen ableiten muss.
In den Pausen sitzen wir oft zusammen und reden wenig. Und manchmal, ganz selten, tut er mir wirklich leid und ich möchte Schubert aufmunternd auf die Schulter klopfen. Wie er dasitzt mit seiner ständig piependen Casio-Quarzuhr, als würde es in seinem Leben nur so wimmeln vor wichtigen Terminen. Mit seiner Thermohose, die aus ihm ein asexuelles Wesen macht. Brustbeutel, Taschenmesser, Notizblöcke und Gratis-TV-Zeitschriften – Schubert ist ein Vierjähriger mit Schnurrbart und Bürstenhaarschnitt, der gern Hausmeister wäre. Schubert muss alles im Griff haben, muss alles planen, alles katalogisieren und ordnen. Und ausgerechnet ihm gehen an diesem Tag im April die Lichter aus.
Eben rumpelte diese Tonne, die von unten ganz dreckig war, wieder runter und Schubert rollte sie zurück, wie immer. Und wie er auf den Deckel der Tonne guckt, bricht die Erinnerung ab, mittendrin und ohne Vorwarnung.
»Achtzehn Stunden und ziemlich genau vierunddreißig Minuten, in der die Welt nicht ohne Schubert, aber Schubert ohne die Welt auskommen musste.« So sagt er das, wenn er sich wichtigmachen will, meistens hat er dann ein, zwei Bierchen drin.
»Zaun, wieso Zaun?«, hat Schubert die ganzen Jahre über immer wieder gesagt, als wäre die ganze Geschichte ein kniffliges Rätsel, über das er nur lange genug nachdenken müsste. »Ich träume von einem gelben Anorak und Frauenbeinen, seit Wochen«, hat Schubert in der ersten Zeit gegrübelt. Ich hab dann immer nur die Schultern gezuckt und gesagt:
»Nicht unbedingt beängstigend.«
»Nein, aber das hat doch eine Bedeutung!«
Bedeutung, hätte ich am liebsten gesagt, Bedeutung, Schubert, damit hast du so viel zu schaffen wie eine Kuh mit Seiltanz. Ich habe es aber nie gesagt, sondern mich über seinen Privatdetektivblick amüsiert, seine nachdenkliche Stimmlage, wenn er sagte:
»Nur Zaun, ich meine: Zaun! Das ergibt doch keinen Sinn!«
»Was du nicht weißt, macht dich nicht heiß«, habe ich gesagt, »vielleicht hat dein Hirn einfach mal aussortiert, Frühjahrsputz sozusagen. Vielleicht war dein Gehirn einfach gelangweilt von deinem scheiß immergleichen Tag und hat sich gedacht, so, schwupps, einfach mal die Lichter aus und mal sehen, was dann mit dem Schubert passiert«.
Klappe halten, meinte Schubert, ob ich denn nicht verstehen könne, dass es einem Angst mache, dass es einen misstrauisch gegen sich selbst werden lasse, wenn man plötzlich und ohne Vorwarnung das Bewusstsein verliere und Stunden später, eine ganze Nacht später, im Morgengrauen von einem kleinen Mädchen gefunden werde, wie man im Halbkoma über einem Zaun hänge, dreißig Kilometer entfernt von dort, wo man zuletzt gesehen worden sei. Dann zeigt er mir die Narben, die die spitzen Zaunlatten hinterlassen haben: Schubert hebt das Shirt hoch, zum hundertsten Mal.
»Da muss doch was dahinterstecken, ich bitte dich.« Schubert macht die Lippen spitz, ich vermute, das soll besonders ernst wirken.
»Transiente globale Amnesie«, sagt er und ich bin überzeugt, das ist das Beste, was Schubert in seinem Leben überhaupt nur passieren konnte. Immerhin hat er so seit neun Jahren ein Gesprächsthema, umgibt ihn etwas Geheimnisvolles. Seit neun Jahren war Schubert jemand. Der Typ, von dem keiner wusste, was mit ihm passiert ist, an diesem Tag. Der Typ mit
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