Gestern war auch schon ein Tag - Erzählungen
geblieben. Ich stelle mir vor: Spaziergänge im Sommer mit kurzen Hosen und Prothese, ihr Sichelfuß im Gras, das Zappeln und Planschen ihres Stumpfs im Wasser. Ich kann keine leichten, keine lässigen Gedanken mehr denken.
Da steht sie plötzlich auf, rührt mir mit ihrem Blick die Gedanken um und küsst mich lange. Dann schnelles Taktak , Schuh und Kohlefaser über das Kopfsteinpflaster des Marktes. Sie rennt auf den Baum in der Mitte des Platzes zu. Keinen, seit ich hier wohne, habe ich je daran klettern sehen. Aber jetzt Susan, die Behinderte. Ihr krächziges Lachen, die Sichel an der Rinde, die Hände am Ast, steigt sie hinauf. Hängt sich kopfüber wie ein Kind im Klettergerüst in den Baum. Die Leute gucken. Ich trinke Bier und gehöre nicht dazu.
Schubert wäre gern geheimnisvoll
»Heute Mittag, so gegen zwei«, sagt Schubert, »ist es mir wieder eingefallen. Die ganze Geschichte. Als ich in der Mittagspause die Pommes bezahlt hab. Ich leg der dicken Blonden an der Kasse so die paar Münzen in die Hand und auf einmal, wie aus dem Nichts, sehe ich das alles haarklein vor mir – so, als wärs schon immer da gewesen!« Dabei sei es über neun Jahre nicht da gewesen. Schubert hatte nämlich vergessen, was mit ihm passiert war an diesem Tag vor neun Jahren. Ein kleines Mädchen, ganz schüchtern und mit Schlitzaugen, hatte ihn auf dem Schulweg im Morgengrauen gefunden, wie er über einem Zaun hing. Wenn er nicht überlaut geschnarcht hätte, hätte es ihn wohl für tot gehalten, wie er dort schlaff hing, die Hände in der Lache seines käsigen Erbrochenen. Er war über einen Tag lang verschwunden gewesen und konnte sich an nichts erinnern.
Schubert konnte immer ganz genau die Stelle sagen, an der die Erinnerung abbrach, das wusste er alles ganz exakt, kein Wunder, er hat jahrelang daran herumerinnert. Nur die Stunden danach, davon hatte er angeblich keinen Schimmer. Bis heute Mittag, so gegen zwei.
»Häh«, sagt Schubert und sieht mich an, »häh, wie kann das sein?« Und er guckt, als wüsste ich die Antwort. Dabei weiß ich gar nichts, außer dass Schubert angeblich wieder Bescheid weiß. »Ich kapier das nicht«, sagt Schubert und reibt sich die Augen. »Wo war das die ganze Zeit und wieso ist es ausgerechnet jetzt zurück?« So kennt man Schubert nicht, so aus dem Häuschen, Schubert, den alten Sortierer, den Saubermann. Plötzlich aufgeregt und wirr. Er stammelt, das habe ich noch nie erlebt. Nur Hähs und halbe Sätze, abgebrochen und vernuschelt. Wo ist der Schubert, den ich kenne und nicht leiden kann? Dieser Schubert, der Streichfett sagt und Butter meint, der alles sammelt, Kerzen, Kreuzworträtsel, Pappkartons, und nichts gebrauchen kann. Er lebt allein und ernährt sich von Fischstäbchen, Nudeln und Ketchup, so einer ist das. Schuhe mit Klettverschluss, Hosen mit Gummizug, Funktionswäsche, Hauptsache praktisch. Dazu sein ewiges Schulterzucken. Ich mag Schubert ungefähr so gern wie Nieselregen. Wir sind Kollegen seit vierzehn Jahren, da gewöhnt man sich, trotzdem ist es mir lieber, wenn die Sonne scheint.
Schubert gehört zu diesem Job, aber er hat mich nie interessiert. Und heute benimmt sich dieser Kauz plötzlich wie ein Mensch. Da spüre ich Sympathie für Schubert, das ist mir ganz neu.
Mülltonne von oben , ich weiß nicht, wie oft er mir das erzählt hat, Mülltonne von oben ist das Letzte, an das Schubert sich erinnern kann. Das ist jetzt nicht die Überraschung schlechthin, Schubert ist Müllmann wie ich, er hat jeden Tag Mülltonnen in der Hand, »183,4 im Schnitt«, er hats gezählt und ausgerechnet. Er fasst sie an, er schiebt sie rum, er leert sie aus, er rollt sie zurück. Genauso auch an diesem Tag im April, Schubert weiß sogar noch die Straße, die Hausnummer, »Theodor-straße 3«, er weiß noch, wie das Wetter war, »leichter Nieselregen, grauer Himmel, gefühlte neun Grad.« Schubert war, das hat er hundert Mal erklärt, in keiner besonderen Stimmung, »leichter Durchfall in der Nacht«, er hätte ein paar Mal rausgemusst und nicht besonders geschlafen, er sei grummelig gewesen. »Aber davon«, sagt Schubert dann immer, »verliert man doch nicht das Bewusstsein, das leuchtet mir nicht ein.« Schubert nahm also die schwarze Tonne, die vor der Hofeinfahrt stand, schob sie zum Müllwagen, hängte sie ein, sie ruckelte und spuckte Müllbeutel, Papierschnipsel und einen alten Fahrradschlauch in den stinkenden Mülltanker. Es suppte etwas bräunliche Flüssigkeit
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